JARMARK EUROPA, R: Minze Tummescheit, D 2004
Jeden Morgen vor Sonnenaufgang füllt sich das Stadion Dziesieciolecia in Warschau mit Händlern aus den verschiedensten Ländern der ehemaligen Sowjetunion. In kleinen Ständen und auf dem Boden breiten sie ihre Waren aus: Zwirn, Nadeln, Schrauben, Klebstoff, Seife, Plastikpüppchen, Kämme und Bürsten, Uhren ohne Armband und Gewürze. All das, was in den Herkunftsländern für nur ein paar Groschen zu haben ist, wird hier ausgelegt wie ein bunter Teppich.
Der Basar in Warschau ist Ausgangspunkt der filmischen Recherche von JARMARK EUROPA. Die Regisseurin Minze Tummescheit begleitet in ihrem Reisebericht zwei Frauen auf deren Fahrten mit der Eisenbahn zwischen dem Markt und dem Herkunftsort ihrer Waren. Tummescheit ist sowohl Regisseurin als auch Sprecherin des, den Film aus dem Off begleitenden, Kommentars. Sie wird dadurch neben den beiden portraitierten Frauen zur einer der Hauptfiguren einer quasi autobiographischen Geschichte – einer Geschichte über die Pendelbewegung zwischen zwei Welten, das Erfahren einer anderen Form von Gemeinschaft, die durch diese Bewegung entsteht und über die Unmöglichkeit von Bildern.
Das Filmteam nimmt an den Anstrengungen und der Dauer der Reisen teil und erfährt die intime Enge der Zugabteile. Die Länge der Zugfahrten und die Wiederholung schreiben sich in die Dramaturgie des Films ein. Auf diese Weise wird der Zug zum Wahrnehmungsdispositiv einer Zeiterfahrung der Dauer. In seiner ästhetischen Form nähert sich JARMARK EUROPA seinem Untersuchungsgegenstand so sehr an, dass er ihm formal zu entsprechen scheint und zugleich seine eigene Entstehung mit reflektiert. Kennzeichnend ist für diese das Wegfahren und Wiederkommen, mitbedingt durch die geringfügige finanzielle Förderung des Films, was wiederholtes Reisen und Unterbrechungen der Aufnahmen nötig machte. In seiner Pendelbewegung ist JARMARK EUROPA wie das Gewebe des Weberschiffchens, wie das Hin und Her der Ökonomie und wie die Reise.
Ebenso wie der Handel auf dem Bazar verlangt das Reisen Geduld und Warten. Im mehrfachen Abschreiten derselben Bewegungen scheint sich der Film zu verdoppeln. Gleichzeitig zeigen sich in dieser Wiederholung Verschiebungen; erst in der Wiederholung wird die Dauer der Reisen für den Zuschauer erfahrbar. Gleichzeitig werden Sehgewohnheiten in die Irre geführt, wenn zum Beispiel eine Abschiedsfeier nicht das Ende des Films, sondern nur die nächste Reise einleitet.
In seinem Beharren auf der Erfahrung der Dauer verlangt der Film vom Zuschauer, sich auf eine andere, fremde Zeiterfahrung einzulassen. Dass dieses Sich-Einlassen auf die fremde Zeiterfahrung Geduld erfordert und anstrengend sein kann, nicht immer nur angenehm ist, zeigten entsprechende Reaktionen des Publikums auf der letzten Duisburger Filmwoche (2004). In der Diskussion zwischen Filmteam und Publikum wurde mehrfach eine quasi „klassische“ Dramaturgie eingefordert. Der Film aber verzichtet weitgehend auf dramatische Zuspitzung, um sich stattdessen der realen Bewegungen der Händlerinnen anzuschmiegen. JARMARK EUROPA folgt damit nicht einer aristotelisch phallischen Dramaturgie mit Steigerung und Höhepunkt, sondern setzt dieser eine weibliche Dramaturgie der Dauer entgegen.
Diese formale Auffälligkeit des Films, nämlich den Zuschauer die Dauer miterleben zu lassen, entsteht durch die teilnehmende Beobachtung der dem Markt eigenen Ökonomie. Eine auffallend große Zahl der Händler auf dem JARMARK EUROPA sind Frauen. Die beiden portraitierten Händlerinnen, Kaleria und Swetlana, gehören zu den Tschelnoki. Tschelnoki bedeutet Weberschiffchen und bezeichnet die Akteure jener Ameisenökonomie, die unterhalb aller legalen oder illegalen Ökonomien angesiedelt ist. Gleichzeitig wird mit diesem Wort auch die Pendelbewegung beschrieben, die Kaleria und Swetlana für ihren Handel ausführen.
Sie sind die Agenten einer Art Mikroökonomie der Globalisierung, Verbindungsglieder zwischen der ehemaligen Sowjetunion und dem neuen Europa. Der Handel auf dem JARMARK EUROPA zwingt diese Händlerinnen zum ständigen Hin und Her. Ihre Existenz hängt von der Durchlässigkeit der Grenzen ab, weil die eigentliche Bewegung ihres Handels in den langen Reisen mit dem Zug stattfindet. Dieser Zug pendelt zwischen Welten, die sich selbst durch ihr Gleissystem unterscheiden.
Es sind denn auch Aufnahmen eines Gleisumstellwerks an der Grenze Europas, die den Film einleiten. Grenzen gibt es hier überall; zu den überquerten Landesgrenzen und den Grenzen der Bilder, des visuellen Festhaltens, tritt die Grenze des Verstehens. Tummescheit versucht sich zu den Frauen und deren Leben in Beziehung zu setzen. Sie thematisiert offen ihr Befremden über das, was sie sieht und beschreibt: Letztendlich bleibt ihr der Aufwand den Kaleria und Swetlana auf sich nehmen genauso fremd, wie jenen Tummescheits Anstrengung für den Film.
Kaleria ist früher einmal Kardiologin und Chefärztin der Polyklinik in Penza gewesen. Nun versucht sie ihre kleine Rente aufzubessern, indem sie mit ihren Plastiktaschen die zweitausend Kilometer zwischen Penza und Warschau immer wieder als Reise auf sich nimmt. Swetlana, die aus dem weißrussischen Brest stammt, ist seit längerem in Warschau ansässig. Ihre Pendelbewegung geht den umgekehrten Weg: Sie kauft Bücher in Minsk für ihre kleine Leihbücherei auf dem Markt in Warschau.
Beide Frauen sind Akademikerinnen. In Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion müssen sie ihren Lebensunterhalt mit Basarhandel bestreiten. Trotz ihres sozialen Abstieges und der großen Anstrengung zeigt dieses nomadische Leben auch Qualitäten: Kaleria und Swetlana reisen nie allein, sondern verbünden sich mit anderen Frauen. Die langen Zugfahrten und die Schwierigkeiten bei den Grenzübertritten lassen die Frauen näher zusammenrücken. Sie verbünden sich, um mehr Sicherheit, aber auch, um mehr Spaß zu haben. Sogar Freundinnen, die selbst nicht reisen, unterstützen die Paare. Vor jeder Reise gibt es große gemeinschaftliche Abschiedsfeiern. Auf einem Bahnsteig wartet mitten in der Nacht eine Frau, um die Freundinnen beim Umsteigen mit Wodka und Häppchen zu empfangen.
Der Umgang der Frauen miteinander und ihr Zusammenhalt verdichten sich mitunter zu utopischen Momenten. Die Gemeinschaft der reisenden Frauen scheint ebenso wichtig zu sein wie der Verdienst selbst. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Reisen rein ökonomisch betrachtet manchmal absurd sind, wenn etwa auf ihnen wegen der hohen Schutzgelder, dem Zoll und den Gebühren nichts verdient wird, sondern gerade mal die Reisekosten herauskommen. Dennoch lohnt sich die Reise, weil sie gemeinsam unternommen wird und den Zusammenhalt stärkt.
Als Tummescheit Kaleria in deren Heimatstadt Penza besucht und beide zusammen in der Küche sitzen und Kartoffeln schälen, spielt sich eine bemerkenswerte Szene ab. Die Ärztin und Tummescheit unterhalten sich über Politik und die Situation in Russland. Auch wenn die Regisseurin während des gesamten Films immer wieder die Kluft zwischen Beobachtung und Teilnahme im Kommentar hervorhebt, beweist die Szene der „Küchenpolitik“, dass es trotz allem möglich ist, intime Momente filmisch einzufangen. Im engen Raum der Küche kommt alles nah zusammen: Essen und Politik, Beobachten und Dabei-Sein. In diesem Gespräch scheint sich magisch zu verdichten, was in JARMARK EUROPA erzählt und bebildert wird. Die Kooperation beim Kartoffelschälen ist selbstverständlich, gekocht wird gemeinsam. Die sinnlich-haptischen Bilder, der Geruch der frisch geschnittenen Gurken vermischen sich mit der Diskussion über politische Verhältnisse. Eine Mikroverdichtung, ein holografischer Splitter der gelebten Wirklichkeit.
Diesem glücklichen Augenblick steht das ständige Thematisieren der Unzulänglichkeiten der Bilder, der Grenzen der Sichtbarkeit gegenüber. Zumeist sind die glücklichen Momente in den Bereich des Unsichtbaren verwiesen, der Erinnerung und der Imagination. Die Reflektion des nicht-gefilmten, der nichtgemachten Bilder zieht sich durch den gesamten Kommentar des Films: Es gibt Bilder, die darf man nicht machen, Bilder, die aus technischen Gründen nicht möglich sind (wenn Tummescheit auf ihrer Reise kein Stativ dabei hatte, gab es keine Totalen), solche, auf die verzichtet wird, weil die Beobachterposition nicht mit dem Dabei-Sein vereinbar ist, Momente, in denen die Kamera weggelegt wird, um teilzunehmen. Bilder, die man nicht festhalten darf, wie der Grenzübergang nach Russland, werden mitunter durch Schwarzbilder ersetzt.
In seinen besten Momenten bedient sich JARMARK EUROPA einer gekonnten Askese der Bilder. Die schönsten Bilder sind oft genau diejenigen, die nur im Off erzählt werden. Sie sind farbiger und stimmiger als die sichtbaren Bilder. Das intensivste Bild, das in Erinnerung bleibt, ohne dass man es gesehen hat, ist der russische Winter, der in der Imagination allein durch die Beschreibungen der Filmemacherin entsteht.
Aber gerade diese imaginären Bilder – erzeugt durch den durchgehend subjektiven Kommentar und dessen Reflexion – wirken mitunter naiv. Ein Grund für die ablehnende Kritik, die der Film auf der Filmwoche in Duisburg erfuhr, mag darin liegen, daß dort die Kommentare dem Reflexionsstand des dokumentarisch geschulten Publikums nicht entgegenkamen. Tatsächlich wirkte im Umfeld von Duisburg der Off-Kommentar zu einfach und unnötig belehrend. Die Naivität der Off-Kommentare kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die Filmemacherin immer wieder auf der Kluft zwischen Teilnehmen und Beobachten insistiert – ein Umstand, der für die Methode mit der JARMARK EUROPA sich der Wirklichkeit nähert, grundlegend, aber jedem Dokumentarfilmemacher nur allzu vertraut ist. In anderen Kontexten dagegen zeigt der Film gerade in seiner Einfachheit seine Stärke. In Berlin, wo JARMARK EUROPA im Forum der Berlinale (2004) zu sehen war, wurde die Offenheit einen persönlichen Standpunkt zu beziehen und das Nachdenken über die Produktionsbedingungen von Bildern zum Moment der Wahrhaftigkeit und sinnvollen Reflektion im Umfeld des aufgeregten Bilder-Konsums.
Neben die intimen Beobachtungen und die Reflexionen über die gemachten und die nichtgemachten Bilder treten subjektive Bilder, die auf utopische Momente verweisen. Bei ihren Besuchen in Penza geht Tummescheit der Spur der Uhren nach, die Kaleria in Warschau verkauft. Es handelt sich um Reste aus der Produktion der örtlichen Uhrenfabrik. Auch hier findet Tummescheit wieder eine Gemeinschaft der Frauen. Das Werk arbeitet nur noch mit Notstrom, die Frauen sitzen in Mäntel gehüllt und werden zum Teil in Uhren bezahlt, denn die ehemals sozialistische Produktion ist unter den neuen Marktbedingungen unrentabel geworden. Aber jeden Morgen kommen die Frauen trotz des lächerlich geringen Lohns hier zur Arbeit, vor allem auch wegen der Gemeinschaft mit ihren Kolleginnen. In der Einstellung des Films sieht man sie ohne Mäntel arbeiten. Der Kommentar klärt uns auf: Die Arbeiterinnen haben diese für die Kamera ausgezogen.
Schon bei Tummescheits erstem Besuch in Penza sieht man eine Seilbahn, die in verblichenen Farben über der Stadt schwebt. Bei ihrem zweiten Besuch in der Stadt wird diese plötzlich in Betrieb genommen. Die Zahnräder drehen sich wieder, die lange stillgestellte Seilbahn bewegt sich doch. Tummescheit folgt den Gondeln mit der Kamera bis zu einem altmodischen Vergnügungspark. Er sieht verlassen und funktionslos aus. Aber der Kommentar fügt ein weiteres Bild hinzu: ein Kinderkarussell, das für ein einzelnes Kind in Bewegung gesetzt wird.
JARMARK EUROPA vollzieht mit diesen Bildern einen Dreischritt von Trostlosigkeit über Poesie hin zu utopischen Momenten. Dabei bemüht der Film keine konventionelle Russland-Romantik. Durch genaues Beobachten, oftmals durch einen zweiten Blick und die wiederholte Begegnung vermittelt durch das reflektierende Ich werden Veränderungen sichtbar.