Filmstart 04.11.2010
Am Anfang begleitet die Kamera eine Frau auf ihrem Weg durch die Strassen der Stadt. Es ist die Schauspielerin Maren Eggert, die in Angela Schanelecs Film MARSEILLE bereits als Fußgängerin in einer Stadt unterwegs war. Das „Gehen in der Stadt“, unten im Gewirr der Strassen, welches Michel de Certeau als konstitutiv für unser Bild von der Stadt beschrieb, war in MARSEILLE zentral. Maren Eggert war damals mit der Fotokamera unterwegs und fotografierte Strassen. Die Fotografie war in diesem Film aber auch sonst präsent: Portraitfotografie in einer Fabrik, der Beruf des Fotografen, Fotos an die Wand anpinnen, auf die Abzüge warten.
Auch in ORLY ist die Fotografie wieder ein zentrales Thema des Films. Gleich in der zweiten Szene ist Maren Eggert auf einem Foto zu sehen. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto, und die Schauspielerin erscheint darauf viel jünger als im Film. Das Schwarz-Weiß-Foto und der länger zurückliegende Film MARSEILLE verweisen je spezifisch auf die analoge Fotografie. In MARSEILLE war die Fotografie noch allein an die klassische Fotografie gebunden. Dies ändert sich mit ORLY. In Schanelecs neuem Film wird nicht nur das Fotografieren mit einer digitalen Kamera vorgeführt. Auch der Film selbst ist digital aufgenommen und bearbeitet. Und man stellt fest: Hier wird nicht ein neues digitales Kino gefeiert, sondern hier wird die Geschichte des Kinos fortgeschrieben, mit digitalen Mitteln – ganz einfach, und ohne großes Aufsehen.
Aufsehen erregt dagegen vielmehr die Art und Weise, wie die Titel des Films ins Bild gesetzt sind. Zwei große weiße Buchstaben OR sind formatfüllend über das Bild der Straßen von Paris gelegt – in Cinemascope. Und dann noch einmal zwei: LY. Alle übrigen Angaben laufen davor auf schwarzem Grund und ohne Ton. Bereits dieser Auftakt erinnert an die 1960er Jahre, an Godard, die Nouvelle Vague. Aber dann geht der Film seinen eigenen Weg, genau wie Maren Eggert. Die Schauspielerin fährt mit einem Taxi zum Flughafen Orly. Und der Film begibt sich ebenfalls an diesen Ort.
Ein Flughafen ist ein Ort der besonderen Art. Weniger das Gehen, sondern das Warten prägt seinen Charakter. Der zentrale Schauplatz des Films ist die Flughafenhalle. Seit Marc Augés „Nicht-Orte“ gehören auch Flughäfen ebenso wie Autobahnen zu von Anonymität geprägten Übergangsstationen. Dieses Klischee des Flughafens als Nicht-Ort wird hier ganz offensichtlich nicht bedient. Nacheinander werden Paare in Szene gesetzt, die sich auf dem Flughafen aufhalten, ihr Warten, ihre Geschichten, ihre Gespräche mit dem Mobiltelefon. Die Licht durchflutete Halle des Flughafens wird zu einem Ort der Begegnung, der Kommunikation, des Geständnisses. Was die verschiedenen Paare verbindet, ist die Ebene des Persönlichen, des Privaten, der Ruhe und der Reflexion. Der Flughafen in Schanelecs Film ist ein persönlicher, ein reflexiver Ort. Die große warme Welle des Persönlichen, die den Transit-Ort Flughafen utopisch durchzieht, macht selbst vor dem Flughafenpersonal nicht halt. Dies wird anhand einer Tomate vorgeführt, die eine Angestellte des Flughafens in ihrer Mittagspause verspeist. Das Essen der Tomate – in den Mund stecken, kauen, schlucken – geht sorgsam vonstatten und ist in erster Linie ein Hörereignis. Immer sind es Alltagshandlungen der Menschen, die das Persönliche in die Szenerie hineinbringen – und die Tatsache, dass Schanelec und ihr Team diesen Akten Zeit, Raum und Gehör schenken.
ORLY wurde bei laufendem Flughafenbetrieb gedreht. Der Kontakt zu den Schauspielern lief über Funk und Kopfhörer. Die Kamera ist vielfach weit entfernt. Und der Ton hört sich an, als wären akustische Inseln aus dem ganzen Soundteppich des Flughafens herausgestellt worden – oder, als hätte Gene Hackman in seiner Rolle als Harry Caul (THE CONVERSATION) diese Tonaufnahmen zu Überwachungszwecken angefertigt.
In einer Szene sieht man, wie eine Frau (Maren Eggert) und ein Mann (Jirka Zett) in Mitten der Menschenmenge des Flughafens einander begegnen. Auch diese Einstellung folgt einer Logik der Überwachung, diesmal visuell. Die Kamera schaut von schräg oben auf die Menschen herab. Doch sie zeigt gleichzeitig etwas ganz anderes. Die Begegnung besteht nur aus einem einzelnen Blick. Dieser wird sorgfältig vorbereitet durch eine Szene beim Einkaufen und dann durch ebene jene Einstellung, die sich in eine Art lebendes Bild verwandelt, durch welches – oder besser in welchem sich die beiden Protagonisten zusammen mit zahlreichen (wirklichen) Reisenden bewegen. Die Einstellung ist mit einem Pop-Song unterlegt, der neben der Perspektive und der langen Brennweite zur Auratisierung beiträgt. Der bildhafte Charakter entsteht aber vor allem durch das „Spiel“ der beiden Protagonisten, durch ihre unbewegten Gesichter, mit denen sie sich durch die Szene bewegen, während die übrigen Reisenden in ständiger Bewegung sind. Erst durch die unbewegten Gesichter wird die dann folgende Begegnung, in der die beiden Figuren zur Seite blicken und einander anschauen, ästhetisch hervorgehoben.
Diese Szene, die auch den Film als Plakatmotiv bewirbt, ist auf der Leinwand so eigen und so besonders, einfach herausragend. Man hat den Eindruck, als seien die Gesichter mit einem zusätzlichen (digitalen?) Schein versehen worden. Und auch wenn das gar nicht stimmt – man ahnt den Schein mehr, als dass man ihn wirklich sieht –, so ist doch in dieser Einstellung ein unglaubliches Bild entstanden, eine Art zeitgenössischer Ikonen-Malerei, welche die Überwachungsperspektive in ein säkulares und gleichzeitig „göttliches“ Bild verwandelt – „göttlich“, wie wir das Wort gebrauchen für den Ausdruck unserer vollsten Bewunderung. Und selbst wenn man die unterlegte Musik nicht mag, ist dieses Bild kaum zu vergessen.
Jenseits aller Bewunderung wird hier ein Blickwechsel inszeniert, ein lebendiger Blick, der für die Zuschauer spürbar wird: ein Blick, wie es ihn nur im Kino geben kann. Und natürlich erinnert dieser Blick an andere Filme, an Chris Markers Fotofilm, der ebenfalls auf diesem Flughafen spielt und in dem ebenfalls ein Blick im Zentrum des Films steht. Nur das Kino hat das Vermögen Bilder in solcher Komplexität hervorzubringen – Bilder, die nicht im Register von Bild, Erzählung oder musikalischer Komposition aufgehen.
ORLY spielt mit den unterschiedlichen Registern, die das Kino konstituieren. Von Anfang an wird der Film von Medien begleitet und gespeist. Dabei ist nicht nur die Fotografie tonangebend, sondern auch die Architektur, die Literatur, die Musik, das Mobiltelefon und das Kino selbst sind bedeutend. Deshalb ist es so schwer zu beschreiben, was der Film eigentlich macht, woraus er besteht, wovon er handelt. „Der Film erzählt episodisch …“, so könnte man versuchen, ihn zu beschreiben. Und dann macht er etwas ganz anderes: er fotografiert, macht Bilder. Sind dies noch die klassischen Paradigmen, in denen man Beschreibungen von Filmen gewohnt ist, so kommen weitere ins Spiel. Der Film präsentiert Musik, spielt ein einzelnes Stück ganz aus, und er bezieht sich auf Literatur, auf einen psychoanalytischen Roman, ohne jedoch mehr als ein paar Sätze daraus vorzulesen. Er „entwirft“ sich, wie eine Architektur, um schließlich auch Architektur zu zeigen (oder anders herum). Gezeigt wird der Flughafen Orly – eine Ikone der modernen Architektur – in einer Art Zeitbild; aber auch die Pariser Bibliothèque Nationale im Speicher einer digitalen Fotokamera.