Introspektionen und Expeditionen bei der 26. Duisburger Filmwoche
Mit "Was geht?" überschrieb die Duisburger Filmwoche ihre diesjährige Leistungsschau des deutschsprachigen Dokumentarfilms. Das Festival, das in den weit über zwei Jahrzehnten seines Bestehens immer dafür stand, präzise Seismogramme gesellschaftlicher Befindlichkeiten zu liefern, wartete in diesem Jahr mit einer irritierenden Standortbestimmung auf. Denn wer vermutet hatte, hinter dem trotzigen Motto verberge sich eine Fortsetzung des eminent politischen Programmprofils von 2001, sah sich getäuscht. Die Filmemacher zeigten sich vielmehr in auffällig großer Anzahl eher als Introspekteure eigener Befindlichkeiten oder als Globetrotter des entlegenen Bildes.
In seinem kürzlich erschienenen Buch Das Gefühl des Augenblicks schrieb der Dokumentarfilmregisseur Thomas Schadt zum Thema Distanz und Nähe: Es "muss unbedingt darauf geachtet werden, dass der Blick von außen möglich ist, dass nicht der Eindruck vermittelt wird, es gäbe keinen Unterschied zwischen Privat- und Filmleben." Und an anderer Stelle: "Nähe allein ist noch lange kein Garant, Mitgefühl und Identifikation mit den Protagonisten herzustellen." Diese so schlicht wie entschieden vorgetragenen Leitsätze eines langjährigen Praktikers hätte man gerne den beiden Filmemacherinnen Katja Baumgarten und Katrin-Charlotte Eißing ins Exposé geschrieben, die in ihren Filmen Innenansichten persönlichster Verwundungen boten und dabei die Grenzen zwischen filmischer und privater Realität komplett auflösten. Katja Baumgarten beschreibt in MEIN KLEINES KIND ihre Wege der Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung, nachdem sie erfahren hat, dass das Kind, das sie erwartet, schwer behindert sein würde. Interviewsituationen mit ihrer Kamerafrau und Freundin Gisela Tuchtenhagen, Gespräche mit ihren Kindern und assoziative, symbolhaft zugespitzte Bildeinfälle – Rosenmotive, Kerzenlichter – werden skandiert von Schrifttafeln, die sich auf einer diskursiven Ebene mit der Problematik der pränatalen Diagnostik beschäftigen. Am Ende wird der Zuschauer Zeuge einer Hausgeburt und – wenig später – vom Tod des frisch geborenen Kindes. Bei allem Mut zur entgrenzenden Selbstoffenbarung und dem unbestreitbaren Verdienst, ein tabuisiertes gesellschaftliches Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, wird hier die offen ausgestellte Intimität zur Wagenburg-Ästhetik – mit nur geringen Chancen für den Betrachter, eine eigene Perspektive auf das Geschehen einzunehmen.
Ähnlich verhält es sich bei Katrin Eißings Film AUF DEMSELBEN PLANETEN. Darin taucht die Filmemacherin ab in die verminten Strukturen ihrer eigenen Familie, die zeit ihres Lebens vom Konflikt des drogenkranken Bruders Arne und den überforderten, zwischen Laissez-faire und Strenge pendelnden Eltern in Atem gehalten wurde. Eißings gleichzeitige Position als Protagonistin und Autorin bleibt ununterscheidbar, ohne dass aus diesem Spannungsverhältnis eine zusätzliche thematische Ebene gewonnen würde. So verschwindet sie in einem dramaturgisch unzureichend durchgearbeiteten Materialmix aus Gesprächssituationen und wenig inspirierten 'Füllbildern', der in einem losen Vagabundieren undefinierter Emotionen mündet. Ein erneuter Beweis dafür, dass die subjektive Betroffenheit als alleiniges filmisches Konstruktionsprinzip mitnichten ausreicht und es gerade hier klar abgegrenzter Sprecherpositionen und gezielter kompositorischer Eingriffe bedarf.
Wie persönlicher Schmerz zur Sprache gebracht und adäquat ins Bild gesetzt werden kann, bewies dagegen Maria Arlamovsky mit ihrem Film LAUT UND DEUTLICH: Innerhalb statischer Kadrierungen erzählen Frauen und Männer von ihren Erfahrungen sexuellen Missbrauchs. Die Umgebung – durchweg private, geschützte Räume – verschwindet mittels einer von Kameramann Nikolaus Geyrhalter eigens entwickelten Aufnahmetechnik im Ungefähren und belässt die Konzentration ganz auf den Protagonisten und ihrer Geschichte. Da ist kein Schnitt zu viel, kein Zoom zu dicht. Diese Reduktion der inszenatorischen und formalen Mittel korrespondiert mit der Abgeklärtheit und Präzision, mit der die Interviewten sich der Kamera öffnen. Hier gelang es, sichere, Vertrauen stiftende Terrains zu schaffen, die jegliches Schielen nach emotionalisierten Betroffenheitsplots von vornherein ausschlossen.
Nikolaus Geyrhalter, ein in den letzten Jahren regelmäßiger Gast in Duisburg, hatte auch einen eigenen Film im diesjährigen Programm: Das 4 Stunden-Opus ELSEWHERE, welches selbst für den jungen, sich in immer neuen Mammutprojekten ausprobierenden Österreicher eine weitere Dimension in Sachen Extremdokumentarismus bedeutete. Das ganze Jahr 2000 hindurch reiste er mit seinem Team jeden Monat an einen anderen entlegenen Drehort – nach u.a. Ladakh/Indien, Siorapaluk/Grönland, Ombivango/Namibia, Falapap/Mikronesien oder Arnhem Land/Australien – und schuf brillant eingefangene Bilderwelten von Lebensformen fernab westlicher Zivilisationstypen, aber auch von den sich in den entferntesten Winkeln einnistenden soziokulturellen, ökonomischen und ökologischen Krisensymptomen einschneidender Globalisierungsprozesse – ob die Inuit in Grönland nun die Tierschutzinitiativen Brigitte Bardots für ihre immer magerer werdende Robbenfangausbeute verantwortlich machen, über einem winzigen mikronesischen Atoll vom Roten Kreuz alle zwei Jahre Weihnachtspakete mit völlig unbrauchbarem Textil-Trash abgeworfen werden oder sich ein namibischer Gemeindevorsteher über die Abfälle von Wilderern und Alhoholhändlern echauffiert. Wie schon in seinen Filmen DAS JAHR NACH DAYTON und PRIPYAT gibt Geyrhalter seinen Protagonisten völlige Aktionsfreiheit innerhalb der Eckpunkte seines mit dem sicheren Gespür des Kameramanns festgelegten Kaders und vertraut auf die Selbsterklärungskraft seiner Bilder. Doch anders als in den vorhergehenden Filmen stößt er hier mit seiner Methode einer ästhetisierten Ethnografie an offensichtliche Grenzen: Der selbst auferlegte Ein-Monats-Rhythmus, im Film kondensiert auf 20-Minuten-Episoden, verhindert einen geduldigeren, tiefer eindringenden Blick und erstickt die Entfaltung der komplexen Subtexte, die unter seinen Bildern liegen könnten. So bleibt der fade Nachgeschmack eines gehetzten Jetset-Parcours, der außer der verkürzt vorgetragenen Klage über das verlorene Paradies lediglich eine Vielzahl perfekt inszenierter Pittoresken zu bieten hat.
Ein Filmprojekt von ähnlich epochaler Statur, jedoch mit ungleich größerer inhaltlicher und narrativer Stringenz aufgelöst, stellte Johannes Holzhausen vor: In AUF ALLEN MEEREN beschreibt er das Schicksal des Flugzeugträgers "Kiev", des einstigen Stolzes der sowjetischen Marine, der zunächst jahrelang als verrottendes Geisterschiff vor der Nordmeerküste Russlands lag und später nach China verkauft wurde, um dort als schwimmender Erlebnispark sein Gnadenbrot zu fristen. Die schon im Stoff angelegte Symbolebene vom Untergang des staatlichen Sozialismus und von den teilweise geradezu grotesken Transformationen seiner Vermächtnisse dient Holzhausen als roter Faden bei seiner Suche nach den Spuren eines nach wie vor intakten Mythos'. Er findet diese in Gesprächen mit den letzten Kapitänen und Offizieren der "Kiev", mit Technikern und Marinetauchern sowie in Archivaufnahmen oder den Gemälden eines Schiffsmalers. Der Film zeichnet einfühlsam und präzise die Konturen des Lebens dieser in die Perspektivlosigkeit Entlassenen nach, die immer noch Kraft schöpfen aus den imaginären Brosamen einer ruhmreichen Vergangenheit – das faszinierende Dokument einer Überwinterung mit schwindenden Reserven.
Die Preisträger 2002:
3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm:
GAMBLING, GODS and LSD, R: Peter Mettler, Schweiz/Kanada 2002
ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm:
SCHLITTENSCHENKEN, R: Erwin Michelberger und Oleg Tcherny, D 2002
Förderpreis der Stadt Duisburg:
TEHRAN 1380, R: Solmaz Shahbazi und Tirdad Zolghadr, D/Iran 2002
Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film:
ELSEWHERE, R: Nikolaus Geyrhalter, A 2001
Weitere Informationen unter: http://www.duisburg.de/Filmwoche/archiv/ptraeger02.html
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