Olivier Assayas zu Gast im Arsenal am 04.10.2011
Die Handlung ist 1972, wenige Jahre nach dem Mai 68 situiert. Zwei Jugendliche, Gilles und Christine, werden in Konflikten mit Schule, Elternhaus und Polizei gezeigt. Ihr Lebensgefühl wird von der zeitgenössischen Rockmusik geprägt. Wegen des Diebstahls von Schallplatten droht Christine die Überstellung ins Erziehungsheim. Die Jugendlichen entziehen sich durch Flucht. Christine begeht schließlich Selbstmord.
Assayas Film trägt autobiografische Züge. Die erste Szene zeigt Gilles und seinen kleinen Bruder. Die Großmutter berichtet auf Ungarisch vom Rückzug der deutschen Armee und von der bedrückenden Stille, vor dem Anrücken der russischen Armee in der Nähe von Budapest. Die Jungen, die diese Erfahrung kaum verstehen, füllen in der folgenden Szene den Raum der Stille, der räumlich und zeitlich weit entfernt liegt, im Kampf um ein Kofferradio, das – endlich richtig eingestellt – Virginia Plain von Roxy Music zu hören gibt und mit den Lyrics einen Blick auf den Film voraus wirft: "So me and you, just we two got to search for something new, Far beyond the pale horizon …". Die Rock-Musik affiziert ihre Körper.
Nach dem Ladendiebstahl folgt eine Schulszene. Gilles handelt während des Unterrichts mit den gestohlenen Schallplatten. Die Schallplatten werden durch die Klasse gereicht, wie in François Truffauts Les 400 coups ein Pin-up. Auch dies ein biografisches Moment, das eine Wahlverwandtschaft zu den Gründern der Nouvelle Vague anzeigt. Gilles wird entdeckt wie Antoine Doinel und schließlich aus der Klasse geworfen. Lehrer und Eltern halten ihn für schwer erziehbar.
Der Unterricht besteht daraus, dass der Lehrer aus den Bekenntnissen von Jean-Jacques Rousseau vorliest, eine weitere Note zur Autobiografie. Man spürt die Diskrepanz zwischen dem Thema des Unterrichts und der Wirklichkeit von Gilles, der sein Leben in der Rockmusik repräsentiert sieht und deshalb anfängt Englisch zu lernen. Wir sehen, wie kommunikatives Handeln zwischen den Generationen scheitert. Das Scheitern wird durch zwei unterschiedliche Formen des Schreibens performativ herausgestellt. Während der Lehrer Namen und zentrale Begriffe aus Rousseaus Autobiografie an der Tafel notiert, schreibt Gilles mit einem Kugelschreiber etwas auf die Schulbank, die bereits zahlreiche Inschriften anderer Schüler aufweist.
Eine andere Szene zeigt den Versuch des Vaters mit Gilles zu sprechen, über seine prekäre Situation in der Schule und über die Kunst Caravaggios. Aber die körperbetonte Bildkunst ist für Gilles nicht zugänglich. Hier zeigt sich auch eine Differenz zur ersten Generation der Nouvelle Vague, die an Referenzen zur Literatur und zur bildenden Kunst ausgerichtet war, während Assayas die Rock-Musik zum Zentrum seines Films macht.
Die Szenen sind elliptisch und erzählen in Bildern. Der zweite Teil des Films verzichtet noch stärker auf Erzählung. Er bewegt sich durch ein nächtliches Fest der Schüler auf einem verlassenen Anwesen. Assayas zeigt das Fest mit den Insignien von Tanz und Cannabis-Konsum. Dazu werden die Platten gespielt, die Gilles zuvor gestohlen hat, und der Film widmet sich ganz der Musik und dem damit verbundenen Lebensgefühl: Janis Joplins Me & Bobby McGee, Creedence Clearwater Revivals Up Around the Bend und Alice Coopers School’s Out.