Bereits der erste Film, den er anschaute, war ein Desaster. Jedes Mal, wenn Judah Ben-Hur auf der Leinwand des „Regina Filmpalast“ aufstand, stand er auch auf. Er hielt es nicht aus in dem Kinosessel. Da er Er geworden war, musste er wie Judah Ben-Hur genau das tun, was dieser tat. Es gab für ihn keine zwei Personen mehr. Der Unterschied zwischen dem auf der Leinwand und ihm im Kinosessel war aufgehoben. Er ist mit ihm eins geworden. Die Projektion auf der Leinwand wurde seine Projektion von sich selbst.
Aber davon erfuhr er erst viel später. Jetzt war es für ihn hier im Kino nur grausam und leidvoll, nicht mehr er selbst sein zu dürfen, sondern ein anderer zu sein, sein zu müssen.
Bei seinem Freund Hans war das ganz anders. Hans kannte das nicht. Ihm war so etwas fremd. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, sich mit einer Projektion auf einer Leinwand zu identifizieren, dazu war er zu sehr in seinem eigenen Film, mit seinem Film beschäftigt.
Hans, der während des Films neben ihm saß, rettete ihn. Wenn er aufstand, packte Hans ihn an der Schulter und zog ihn wieder in den Kinosessel. „Jetzt bleib doch sitzen, du Seggl1“ zischte er ihn jedes Mal an. Einmal als Judah Ben-Hur, nach einem Gespräch mit seinem Jugendfreund, der inzwischen zum Verräter geworden war, aus der Hocke aufstand, um aus dem Bild zu gehen, musste Hans, der kurz nicht aufgepasst hatte, ihm hinterherrennen. Zehn Sitze weiter erreichte er ihn, packte ihn an der Schulter und bugsierte ihn zu seinem Kinositz zurück. Dem Publikum, das im überfüllten Kino zu murren anfing, zischte Hans entgegen: „Haltet eure Gosch2, der ist halt so“. Nachdem der Film beendet war, der Abspann vorüber, das Licht wieder eingeschaltet, bemerkte er, dass seine Fingernägel bluteten, blutig gekaut waren. Hans gab ihm sein Taschentuch.
Wenn Sigmund Freud meint, dass das Es nicht zum Ich werden solle, so hat er vergessen zu erwähnen, dass das Es sich nicht in den Sessel des Ichs setzen sollte, da das dort sitzende Ich sonst besessen wird.
Das Kino „Regina Filmpalast“ lag auf seinem Schulweg. Inzwischen wurde er in der Schule Filmwart. Seine Aufgabe war es, wenn der Herr Lehrer einen Film der Klasse zeigen wollte, eine Filmstunde abhielt, den 16 mm Projektor aus dem Schrank des Vorführraums zu holen, ihn fachgerecht aufzustellen, zu positionieren, die Filmspulen aus den Händen des Herrn Lehrer in Empfang zu nehmen, um diese nun gekonnt, den Vorgaben gemäß, einzulegen, einzuspulen. Dabei waren präzise mechanische Kenntnisse und Filmprojektionserfahrungen von Nöten. Die beherrschte er. Das machte ihm Spaß. Zu viel Sonstigem war er in der Schule nicht zu gebrauchen. Beim Gruppensport wollte ihn keine Mannschaft haben, er verstand nie, was von ihm erwartet wurde. Die Klassengemeinschaft, von der gesprochen wurde, verstand er nicht, genauso wenig wie die spezielle Sprache der Lehrer und deren Begehren und Wollen. Die ganze Schule war ein Fremdraum für ihn. Nur das Filmvorführzimmer, das war der Ort, der ihm gefiel. Dort war er mit der Apparatur, dem Projektor allein, man ließ ihn in Ruhe, er konnte den Film vorführen und hatte dazu auch noch eine dienliche Funktion.
Er musste den Filmstreifen einspulen, die Schleifen anlegen, die nicht zu kurz, aber auch nicht zu lang sein durften. Bei der Tonabnahme wie bei der Projektorlampe musste der Filmstreifen exakt plan liegen, um dann in einer großen Pufferschleife zum hinteren Aufspulrad zu kommen, um dort gleichmäßig, ohne Spannung aufgerollt zu werden. Den ganzen Transport des Filmes bewerkstelligten kleine Häkchen an Rollen, die genau in die Perforationslöcher an beiden Seiten des Filmes passten. Das war der sensibelste Punkt eines jeden Films. Wenn die Öffnungen und Haken nicht passgenau eingelegt wurden, verhakten sie sich, verwickelten den Film, der dann riss und die Vorführung war beendet.
War der Film, ohne Filmhavarie, ganz regulär zu Ende, erzählte der Herr Lehrer der Klasse den Film noch einmal. Er verstand nie, warum der Film noch einmal erzählt wurde, sie hatten ihn doch gerade gesehen. Ein Rätsel, das er nie enträtseln konnte.
In dieser Zeit war er glücklich, nicht zur Klasse zu gehören, nicht gefragt zu werden, was er gerade gesehen, was er durch den Film gelernt, wie ihm der Film gefallen habe. Er war ausgenommen, er musste den Film zurückspulen, den Projektor, nachdem die Lampe ausgekühlt war, abbauen, um ihn dann in die große graue Kiste einzupacken.
Die Filme waren Lehrfilme, das Leben der Biene, das Leben der Ameisen, der Spechte, des Bauern, des Schusters, die Aufgaben einer Magd. Die Entstehung einer Wurst, einer Semmel, eines Nagels. Die Filme waren selten länger als 15 Minuten und für ihn geeignet. Keiner der Filme beabsichtigte, den Zuschauer, also ihn, in das Geschehen einzubeziehen, seine Gefühle anzusprechen, ihn zu manipulieren. Die Filme zeigten nur etwas, einen Ablauf, wie Wurst gemacht wird, wie Getreide angebaut und geerntet wird, wie ein Schornstein gebaut wird. Er fand das alles interessant, spannend, es waren für ihn Einblicke in Leben, in Abläufe, die er nicht kannte. Filme in denen er nicht vorkam. Er war sehr fasziniert von der Welt der Filme.
Eines Tages standen auf dem täglichen Schulweg, vor dem Kino „Regina Filmpalast“ merkwürdige Männer und Frauen mit Schildern herum. Sie hielten diese Schilder hoch. Schilder auf denen PFUI, VERBIETEN, UNTERGANG, SAUEREI, UNANSTÄNDIG stand. Ganz aufgeregt, bestimmend und stumm, standen diese Menschen herum. Einmal drei, manchmal fünf, immer eine ungerade Zahl. Er verstand nicht, warum sie dort vor dem Kino standen und warum nie in gerader Anzahl. Jedes Mal wechselte er die Straßenseite, denn das meinte er schon zu verstehen, dass das, was da abging, nichts für Kinder ist, dass er da einen Bogen herum machen musste. Das Ganze war zu komisch. Zu Hause nachzufragen, traute er sich nicht. Das, was er da sah, war irgendwo in der Kategorie unmoralisch, schmutzig, im Verschwiegenen angesiedelt.
Dass der Film, der diese großen Emotionen und Proteste auslöste, „Das Schweigen“ hieß, erfuhr er später, unter der Hand, von einem Schulkameraden und las, heimlich, darüber in einem Zeitungsartikel. Es sei ein schwedischer Film von einem Ingmar Bergman.
Dieses Erlebnis, dass Erwachsene vor einem Kino standen und protestierten, zog ihn an. Das machte ihn neugierig. Was ist an einem solchen aufwühlenden Ort, einem Kino, was die Menschen so bewegt, das solch große Gefühle hervorruft?
Von nun an ging er öfters ins Kino. Es gab in der Stadt, in der er aufwuchs, noch andere Kinos, das „Union“, das „Rex“, das „Capitol“ und eben das „Regina“. Er lernte alle von innen kennen.
Er ging nur in Begleitung seines Freundes Hans in einen Film, da dieser ihn beschützte, wenn er wieder aufstehen musste, wenn er es nicht mehr in seinem Kinosessel aushielt, wenn die vorgefertigten Gefühle ihn überwältigten, ihn dominierten und er dort auf der Leinwand gebraucht wurde, um jemanden zu schützen, ein Elend zu teilen, oder sonst in einer Art und Weise dort auf der Projektionsfläche, behilflich zu sein. Hans, der die ganze Zeit seine Hand an ihm hatte, reagierte bei der leisesten Regung: „Bleib sitzen du Seggl, das ist doch nur ein Film“.
Filme schauen belastete ihn immer mehr. Ein erweitertes Problem war, selbst wenn er nicht im Kino war, wähnte er sich ab und an plötzlich in einem Film. Dies war nicht immer hilfreich, um den Alltag zu bestehen, wenn er plötzlich, zum Beispiel bei einem Bäcker, oder beim Fahrradfahren, wie in einem Film reagierte. Er beschloss, nun keine Filme mehr anzuschauen.
Aber von dem Medium Film konnte er nicht lassen, das faszinierte ihn. Gerade weil es bei ihm so viel auslöste, er hatte das Gefühl, das Medium zu verstehen.
Mit Hans drehte er dann selbst Filme. Hans organisierte eine Kamera, eine moderne „Super-8“. Er kaufte Filme, die man zum Entwickeln einschicken konnte. Von jemandem, dessen Vater Urlaubsfilme schnitt, bekamen sie ein kleines Schneidegerät.
Er wollte einen Musikfilm, Musikclip wie man später sagte, machen. „The Doors - The Unknown Soldier“ 3 war der Song, der ihn am meisten interessierte, der ihn elektrisierte, der für ihn mehr als ein Lied war, es war die Botschaft, seine Botschaft, sein Lebensgefühl, dazu hatte er viele Bilder.
Ein kleiner aufziehbarer trommelnder Spielzeugbär spielte mit, Freunde fielen als Soldaten reihenweise ins Gebüsch, Freundinnen warteten auf die nicht mehr Kommenden, das Erschießungskommando stand stramm. Da sie keine Gewehre hatten und niemand eine solche Rolle übernehmen wollte, filmten sie nur die Füße. Sie rannten mit der Kamera in der Hand rückwärts vor den rennenden Soldaten, fielen hin, alles musste mit einer Einstellung stimmen, einen zweiten Dreh gab es nicht. Dann, als der Film endlich, nach ängstlicher Wartezeit, ob er nicht verloren ging, von der Entwicklung zurückkam, schnitten sie ihn, viele kurze Schnitte, klebten ihn zusammen und die 3 ½ Minuten des Songs waren mit ihren Vorstellungen, mit seinem Inneren, bebildert.
Nun wollte er Film studieren. Er bewarb sich bei einer neu gegründeten Filmhochschule und wurde zu einem Gespräch eingeladen. Bei dem Bewerbungsgespräch, das ihn an die vor kurzem stattgefundene Musterung erinnerte, bei der er ausgemustert worden war, befragte man ihn, nach welchem Vorbild er den Film zu der Musik drehte. Sie hätten einen solchen Film noch nie gesehen. Als er sagte, er hätte das nicht nachgemacht, es gebe keine Vorbilder, er lehne Vorbilder sowieso kategorisch ab, das sei sein Einfall gewesen, runzelte das Auswahlgremium die Stirn. Dann wollten sie wissen, was seine Lieblingsfilme seien und was seine Lieblingsschauspieler oder Schauspielerinnen. Als er wahrheitsgemäß antwortete, dass er nie Filme anschaue, dass ihn Filme nervös machen würden, dass er keine Schauspieler kenne, da er sich keine Namen merken könne und wenn die Schauspieler andere Rollen spielen, die Rollen wechseln, könne er sie nie als gleiche Person erkennen.
So viel synchrones Kopfschütteln sah er noch nie und als sie ihn nun fragten, warum er denn Film studieren möchte, wenn er keine Filme anschauen würde, antwortete er, er möchte Filme machen, aber keine sehen.
Er wurde abgelehnt und sah nie eine Filmakademie von innen.
Wie es mit ihm weiter ging?
Als Märchen, als Drama, als Tragikomödie oder ganz normal wie das Leben eben ist, das erzähle ich ein anderes Mal, in einer neuen Staffel.