Das „Nach“ in Nach dem Film steht für das, was auf das Verlassen des Kinos folgt. Das Licht geht an, beim Aufstehen fällt eine leere Flasche um und zum Film müssen Worte gefunden werden, zumindest wenn eine Begleitung mit im Kino war, vielleicht auch sonst. Einerseits. Andererseits steht das „Nach“ für das, was auf das Kino als Medium folgt: „Historisch betrachtet geht es ‚nach dem Film‘ um die Veränderungen von Film und Kinematografie angesichts der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien.“ So hat es Winfried Pauleit für das Programmposter des Arsenals vom Dezember 1999 formuliert. Dieses Poster mit Programmübersicht und Filmbeschreibungen hatte ungefähr das Format Din-A2 und war von beiden Seiten bedruckt. Mitte des Monats musste es gewendet werden. Die „Internetpräsentation“ der ersten Ausgabe des „elektronischen Magazins“ fand am 17.12.1999 statt1.„Internetpräsentation“ sollte heißen, dass die Website auf der Kinoleinwand gezeigt werden sollte – ob das im Dezember 1999 tatsächlich online geschah oder ein Dummy projiziert wurde, erinnere ich nicht, ich nehme an letzteres. Wir saßen in Kinosesseln im „alten“ Arsenal in Schöneberg. Es waren die letzten Wochen in der Welserstraße. Auf demselben Programmposter, das den Release von Nach dem Film ankündigt, bedankt sich das Kino bei seinem Publikum für die zahlreichen Briefe, die es erhalten hatte: „viele von ihnen haben uns den Rücken gestärkt und uns Hoffnung gemacht, daß unsere Programmpolitik auch am Potsdamer Platz Zukunft haben wird.“ Die Neubebauung des Potsdamer Platzes mit seinen Multiplex-Kinos war der Kontrapunkt zum Arsenal in der Welserstraße. Auch wenn es am Potsdamer Platz nun zwei Kinosäle, statt bisher nur einen geben sollte und auch ein großes Foyer, wie es sich die Besucher*innen gewünscht hatten, schien mit dem Umzug doch eine ganze Kultur auf dem Spiel zu stehen. Ein Kino musste verlassen werden und damit vielleicht das Kino überhaupt – oder eben das Kinematografische, das aus Filmrollen, Leinwand, Sesseln, Programmpostern, Filmgesprächen und den Worten beim Verlassen des Kinos besteht. Im Anschluss an die Internetpräsentation wurde Rudolph Matés When Worlds Collide von 1951 gezeigt, weil sich die erste Ausgabe von Nach dem Film „Das Kino bebt“ nannte, und auch ein wenig wegen des Sony Centers am Potsdamer Platz, das gerade erst fertig gestellt worden war. Das Bild einstürzender high-rises war 1951 und auch 1999 bereits eine Filmimagination. Der Eintritt zur Internetpräsentation betrug 11 DM.
Die „neuen Informations- und Kommunikationstechnologien“ waren auch im alten Arsenal nicht mehr ganz neu. Gemeint sind mit „neuen“ ja nach wie vor digitale Technologien, weil nach den digitalen keine neueren Technologien mehr zu erwarten sind bzw. das Neuere sich innerhalb des Digitalen und seinen Assemblagen ereignet. Winfried hatte mich ungefähr 1997 immerhin per E-Mail angefragt, ob ich Lust hätte, an diesem Projekt Nach dem Film mitzuwirken. Er würde mir, wenn ja, ein paar Informationen per „snail mail“ schicken. Ich erinnere mich, Winfried zurückgefragt zu haben, was er mit „snail mail“ meinte – ein neues digitales System oder einfach eine weitere E-Mail (warum mein Modem nicht „snail“ nennen?). Umfangreichere oder irgendwie offiziellere Informationen schickten wir offenbar als Brief; auch frage ich mich, warum ich nicht bei Yahoo nachgeschaut hatte, was „snail mail“ hieß (anstatt mir die Blöße der Nachfrage zu geben). Die googlization2 setzte erst später ein, und mir ihr ein Bescheid-Wissen und Sich-Auskennen, das permanent hergestellt werden muss. Die technologischen Bedingungen von Wissen machen auch die Zeitzeuginnenschaft, die ich hier bemühe, aus. Denn meine Erinnerung, die subjektiv und affektiv, wie sie ist, keiner Chronologie folgt, speist sich vor allem aus Archivschachteln und Duck Duck Go (in einer hilflosen Anstrengung der degooglization). Snails und Ducks, erst die Schnecke, dann die Ente – welche Mediengeschichte erzählt das? Vorher, nachher? Vor dem Film, nach dem Film?
Also ein paar nachgeschlagene Daten: 1998, als die Nach dem Film-Gruppe sich zu treffen begann, gab es knapp 300.000 Websites mit .de-Domain; 1999, als die erste Ausgabe erschien, waren es schon ca. 1,3 Millionen.3 Zwischen 1998 und 1999 hatte sich HTML, die Sprache, die der Browser ausliest, um eine Website auf einem Bildschirm erscheinen zu lassen, von ihrer Schriftbasiertheit gelöst und ermöglichte es, Bilder in Texte zu integrieren, mit Stylesheets, Tabellen und Frames zu arbeiten.4 Wir gehörten zu diesem Boom: Nana Rausch und Enikö Gömöri, die die Gestaltung und Programmierung von Nach dem Film als gemeinsame Diplomarbeit besorgten,5 nutzten all diese neuen Features: Nach dem Film war eine Tabelle in einer Tabelle. Wir zerlegten Texte in Abschnitte, kopierten sie in Tabellenzellen und stellten diese formatierten Templates dann online. Nana und Enikö hatten eine Anleitung geschrieben, in der steht, dass Tabellen zuweilen gefaked werden mussten: „[b]ei dem Preminger Beispiel, bei dem die Bilder direkt untereinander stehen, müssen diese in Photoshop zu einem Bild zusammen gesetzt werden: zu beachten ist eine 1 Pixel starke Trennlinie zwischen den Bildern.“6 Wir bastelten also in Photoshop Trennlinien zwischen Bilder, um es auf der Website dann wie ein durchgehendes Raster aussehen zu lassen. Das ist nichts, was ein Content Management System, auf dem auch Nach dem Film heute basiert, Usern noch abverlangen würde. Nicht ganz kann ich einen Pionierinnenstolz, in immer wieder zerberstenden Tabellen diese Nach dem Film-Ausgaben zusammengebracht zu haben, verhehlen.
Wichtiger aber, als ein Früher oder Später, ein Vorher oder Nachher zu behaupten, ist, dass zu dem Projekt Nach dem Film die materielle Praxis des Veröffentlichens ebenso gehörte wie das Sprechen über die eingegangenen Texte in den Redaktionssitzungen, die in unseren Wohnungen stattfanden. Wissenschaftliches und publizistisches Arbeiten ist immer auch eine materielle Praxis, die das Lesen und Schreiben auf verschiedenen Oberflächen ebenso wie das Redigieren und Korrigieren – und im Fall eines Online-Magazins auch das Einpflegen der Texte in das Backend von Websites – umfasst. Letzteres kann ein Kampf um Buchstaben und Linien sein, der jeden Text in ganz anderer Weise erfahrbar macht als seine Lektüre, auf welchem medialen Träger auch immer gelesen wird. Die spezifische Materialität der Erscheinungsform jedes Textes wird zu einem Teil dieses Textes. Deswegen stimmt auch nicht, was im Jurystatement des Grimme Online Award 2004, für den Nach dem Film nominiert war, steht: „Die Technik tritt 2004 weniger eitel auf. Technik dient den Inhalten – immer häufiger bemerkt man sie nicht mehr. Ein Zeichen, dass das Medium gereift ist und aus den eigenen Fehlern gelernt hat. Und wichtiger noch: Qualität wird immer stärker von den Inhalten bestimmt und nicht vom neusten Plug-in.“7 Aber eine Binarität von Technik und Inhalt, wie vom Grimme Online Award mit biederen Qualitätserwartungen behauptet, gibt es nicht, denn beides ist in der Praxis des Publizierens miteinander verbunden ist. Wenn die gestaltete Oberfläche, das Interface, nicht mehr hervortritt, dann weil sich technische Standardisierungen des Content Managements durchgesetzt haben und sie daher nicht mehr augenfällig sind.8 Den Award in der Kategorie Medien-Journalismus hat Nach dem Film nicht gewonnen, aber Christine Hanke und ich haben eine Nacht im Grandhotel Schloss Bensberg übernachtet.
Das „Nach“ in Nach dem Film steht für das, was auf das Verlassen des Kinosaals folgt, sei es nach einem einzelnen Film, sei es nach dem dauerhaften Schließen des Saals. „Beim Verlassen des Kinos“ heißt ein kurzer Text von Roland Barthes aus dem Jahr 1975, auf den unser elektronisches Magazin in redaktioneller Verehrung anspielt.9 Barthes erprobt darin einen doppelten Blick: einen auf den Film und einen auf die Ränder des Films: „als hätte ich gleichzeitig zwei Körper: einen narzißtischen Körper, der, im nahen Spiegel [dem Film, K.P.] versunken, betrachtet, und einen perversen Körper, der bereit ist, nicht das Bild zu fetischisieren, sondern das darüber Hinausgehende“.10 Das ist eine Übung, die sich auch post-kinematografisch durchführen lässt, denn es geht darum, „eine ‚Beziehung‘ durch eine ‚Situation‘“ zu komplizieren.11
Filme so zu sehen, dass die Situation der jeweiligen Filmbetrachtung ins Spiel kommt, heißt zum Beispiel, die Multiplexe als mediale Ökologie des Filmischen in den Blick zu rücken oder auch das Laptop und das Sofa beim Seriengucken, dessen Ökonomie darin besteht, dass jedes Verlassen aufgeschoben ist – das der Episode, der Season, des Sofas. Und auch die Vorführsäle des Kino Arsenals am Potsdamer Platz werden wir wieder Verlassen müssen, wenn es abermals umgezogen sein wird, 2024 ins Silent Green. Über solche Materialitäten lässt sich weiter Nachdenken in Nach dem Film mit seinen schönen Gifs, die 1998, als sie gebaut wurden, ein Zitat der Leuchtschriften des alten Kinos waren und die heute eine Reminiszenz der 1990er Jahre sind.