Analoge Medien und filmische Archäologie
Auf der Suche nach historischen Fotos von Chicago macht der Historiker John Maloof einen besonderen Fund: Er ersteigert den fotografischen Nachlass einer bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten Künstlerin. Die Motive und Szenen, die er auf den Bildern entdeckt, so erzählt und zeigt er in seinem Film FINDING VIVIAN MAIER (USA 2013), erinnern an den Stil klassischer Street Photography und stehen in ihrer Qualität den Aufnahmen von Fotograf*innen wie Diane Arbus oder Robert Frank in nichts nach. Wie war es möglich, dass diese Bilder nie an die Öffentlichkeit gelangten, und wer war die unbekannte Person hinter der Kamera? Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte dieser Recherche nach dem Muster einer Detektivgeschichte, in der sich der Filmemacher auf die Suche nach der unbekannten Fotografin macht. Er findet heraus, dass es sich um ein ehemaliges Kindermädchen und eine obsessive Sammlerin handelte, die nicht nur Unmengen von entwickelten und unentwickelten Fotos und Filmen aufbewahrte, sondern auch Kleidung, Schmuck, Zeitungen sowie zahlreiche Notizen, Bustickets und Quittungen, die von Maloof vor der Kamera ausgebreitet werden. Die Frage: „Why is a Nanny taking all these photos?“, die er ungläubig stellt, während er die Kamera auf sich selbst gerichtet hat, fungiert im weiteren Verlauf als Leitfaden des Films. Es sind also nicht nur die außergewöhnlichen Fotos selbst, die im Fokus des Films stehen, sondern das Habhaftwerden eines außergewöhnlichen Funds und die Suche nach der Geschichte hinter den Bildern: Wer waren die Menschen, die abgebildet sind, wer war die Person, die sie fotografierte, und wie konnte das ganze Material vergessen werden?
FINDING VIVIAN MAIER ist allerdings nur das bekannteste und populärste Beispiel einer solchen filmischen Fund- und Rettungserzählung. Schnell lassen sich weitere Beispiele unterschiedlicher dokumentarischer Genres finden: So rekonstruiert zum Beispiel Sergio Oksman in seinem Kurzfilm A STORY FOR THE MODLINS (SPANIEN 2012) das enigmatische Leben der Familie Modlin anhand von auf der Straße gefundenen Fotos und Dokumenten. Auch der Filmemacher Tal Haim Joffe nimmt in seinem Film THE GREEN DUMPSTER MYSTERY (ISRAEL 2008) eine gefundene Box mit weggeworfenen Fotos auf der Straße als Ausgangspunkt seiner Erzählung, die der Geschichte einer Familie nachspürt, die im polnischen Łódź beginnt und in Tel Aviv endet. Eine andere Entdeckung macht der Filmemacher Aaron Brookner, wenn er auf den bis dahin vergessenen filmischen Nachlass seines verstorbenen Onkels Howard Brookner (UNCLE HOWARD, USA 2016) stößt und damit einen intimen Einblick in die New Yorker Underground- und Schwulenszene der Siebziger und Achtziger Jahre gibt. Einigen der hier zu sehenden Künstler*innen wie Andy Warhol oder Jonas Mekas begegnet man dann auch in dem Film THAT SUMMER (SCHWEDEN/USA 2017) von Göran Hugo Olson wieder, der ebenfalls gefundenes Bildmaterial präsentiert, das von Lee Radziwill, der jüngeren Schwester von Jacky Kennedy, stammt. Mit wiederentdecktem Fundmaterial, setzt sich schließlich auch Thomas Elsaesser in seinem Film DIE SONNENINSEL (DEUTSCHLAND 2017) auseinander indem er die Briefe seiner Großmutter mit alten Amateurfilmaufnahmen seines Vaters in Verbindung bringt und so eine neue Perspektive auf das Material und somit auch auf die damit verbundene Geschichte entstehen lässt.
In dem die Filmemacher*innen das Material durch ihre filmische Aneignung retten, werden nicht nur die darauf abgebildeten Personen und die mit ihnen verbundene Geschichte(n) vergegenwärtigt, sondern auch die analoge Materialität. Im Kontrast zum Digitalen wird das analoge Material dabei als physisches und kostbares Objekt, gelagert in Kisten, Kellern oder Alben, als verborgene Realität präsentiert: „Die unendlich vervielfältigbaren digitalen Bilderströme haben ältere Fotos, die früher alltäglich, selbstverständlich und sogar banal waren, in potentiell knappe Güter verwandelt: kostbare Augenblicke, Fragmente einer verschwundenen Welt, Sammlerstücke.“ (Groebner 2018: 3) Es wird dabei aber nicht nur die Vergänglichkeit des jeweiligen Bildmaterials, sondern auch die des obsolet gewordenen Mediums als solchem hervorgekehrt. Das Prestige, das dem filmischen Zelluloidmaterial und der analogen Fotografie zukommt, ist auch mit einem neuen Reiz verbunden, der von dem gealterten Material ausgeht. Indem die Filmemacher*innen ihre Fundstücke als Raritäten präsentieren, wird das alte Material als ästhetisches, aber auch als medienkulturelles und kulturgeschichtliches Gegenstück zur digitalen Immaterialität präsentiert. In der Repräsentation und Aneignung von analogem Material im Film äußert sich so die „Dialektik von materiellem Tod und der Hoffnung auf eine digitale Wiederauferstehung“ (Elsaesser 2016: 153), weil die Darstellung und Konservierung der Bilder im Film gleichzeitig immer auch auf ihren Verfall verweisen.
Bei ihren Darstellungen des analogen Materials, nehmen die Filmemacher*innen die Zuschauer*innen sowohl in öffentliche Archive, als auch in staubige Keller und Garagen oder verlassene Wohnungen und Flohmärkte mit, wodurch dann auch die Filme selbst zu Orten der Begegnung und des Wiederfindens unbekannter Film- und Fotoaufnahmen werden. All diesen, durchaus heterogenen Filmen ist dabei gemeinsam, dass sie die gefundenen Bilder immer auch als materiale Objekte präsentieren. Das Material wird also nicht einfach „wiederbelebt“, die Bilder werden nicht einfach zu denen des Films, sondern eher wird der Film zu einem Medium der Rettung und Bewahrung, in dem das Material fast wie in einem Behälter gesammelt und konserviert wird. Das wirft ganz allgemein die Frage auf, ob und inwiefern solche filmischen Aneignungen analoger Materialien Funktionen eines Archivs simulieren oder gar übernehmen.
Ein Ort, an dem Hinterlassenschaften unterschiedlichster Art gesammelt, bewahrt und zugänglich gemacht werden, kann als Archiv beschrieben werden. Dabei hat das Konzept des Archivs in den letzten rund zwanzig Jahren eine erhebliche Ausweitung erfahren. Archive als Institutionen erleben einen historischen Wandel, insofern Digitalisierung und die globale Vernetzung durch das Internet Speicherung von und Zugang zu Archivgut grundlegend verändert hat. (Vgl. Ebeling/Günzel 2009: 7-26).
Archive erfordern nur noch selten und nicht immer aus zwingenden Gründen die Präsenz an einem bestimmten Ort, denn Suche und auch Sichtung und Auswertung finden vielfach digital und online, das heißt also am Bildschirm statt. Dabei wird der Begriff des Archivs nicht nur für institutionelle Online-Angebote, sondern auch für ganze Video-Plattformen oder gar das Internet als solches gebraucht. Grenzen und Voraussetzungen des Archivs, die einmal selbstverständlich erscheinen konnten, sind in den letzten Jahren also ungewiss geworden. Und so ist es kein Wunder, dass das Archiv auch zu einem zentralen Begriff medienwissenschaftlicher Diskurse geworden ist. Löst man sich von der Vorstellung des Archivs als physischem und feststehendem Ort der Aufbewahrung und versteht man es eher als Ausgangs- und Bezugspunkt für Diskurse der Erinnerung und Tradierung, so lässt sich fragen, inwiefern auch Filme als Ort der Speicherung fungieren können, in denen Material gesammelt und konserviert wird. Doch verdeutlicht gerade der historische Wandel, den das Archiv erlebt, den Gegensatz zum Film: In Archiven laufen permanent Prozesse der Transformation und Neuorganisation ab, bei dem Materialien neu geordnet, erneuert oder auch entsorgt werden. Das Archiv ist somit immer als ein Ort nicht nur „konservierenden, sondern auch transformierenden Speicherns“ (Wirth 2005: 19) zu betrachten. Filme dagegen sind bestimmt vom Dispositiv der Montage und können nur innerhalb einer festgelegten Abfolge betrachtet und abgespielt zu werden.
Filme können analoges Bildmaterial also zwar als Dinge sammeln, die in Alben, Ordnern, Koffern und Schachteln gefunden und aus diesen hervorgeholt werden, um dann mit mitunter archivarischer Sorgfalt vor der Kamera platziert und abgefilmt zu werden, doch müssen sie unweigerlich eine bestimmte Bilderfolge festlegen, in der sich eben nur eine Perspektive auf das Material ausdrücken kann, die, auch wenn sie forschend und offen sein mag, immer einen Singular fixiert.
Tatsächlich treten in den hier beschriebenen Filmen nicht nur analoge Bilder als Dinge, sondern auch die Filmemacher*innen als Forscher*innen und Entdecker*innen auf. So sieht man Thomas Elsaesser in DIE SONNENINSEL nicht nur beim Betrachten alter Filmkameras, sondern auch, wie er mit einem Boot hinaus zu der Insel fährt, auf der seine Eltern und Großeltern damals ein architektonisches Selbstversorgerprojekt realisierten auf das heute nur noch Ruinen verweisen. Auch in UNCLE HOWARD begleitet die Kamera den Filmemacher Aaron Brookner bei seiner Suche nach dem filmischen Erbe seines Onkels und zeigt ihn, wie er gemeinsam mit Jim Jarmusch in den Keller des berühmten Bunkers in Brooklyn hinabsteigt und den Schrank mit den zahlreichen verstaubten Filmrollen öffnet. Etwas später werden Fotos, Zeitungsartikel und VHS-Kassetten aus dem Besitz seines Onkels als Objekte präsentiert und auf dem Boden ausgebreitet. Ähnlich ist es bei FINDING VIVIAN MAIER, wenn die Suche nach der zu Lebzeiten unentdeckt gebliebenen Fotografin, Schritt für Schritt in Szene gesetzt wird, indem der gesamte Nachlass, der sich neben Fotos- und unentwickelten Filmrollen, auch aus Kleidern, Koffern, Hüten, Zeitungen und aufbewahrten Dokumenten zusammensetzt, vor die Kamera geholt wird. Dabei werden die von Maier in großer Anzahl aufgehobenen Quittungen und Belege vorgeführt, indem sie ordentlich ausgebreitet auf dem Boden nebeneinandergelegt und von oben abgefilmt werden, um so noch einmal zu verdeutlichen, wie umfangreich ihr Nachlass war. Es ist dann schließlich eine kleine Notiz auf einer der Quittungen, die Maloof die ehemaligen Arbeitgeber*innen von Vivian Maier finden lässt, die Aufschluss über das Leben der posthum entdeckten Fotografin geben könnten.
Und so sind es häufig die zunächst beiläufigen und unbeachteten Details, die den Ausgangspunkt der weiteren Recherche bilden: eine gefundene Postkarte, ein einzelnes Foto im Familienalbum, ein Buch-Cover oder eine auf Papier gekritzelte Zeichnung. Auch hier spielt es oft eine Rolle, dass die entsprechenden Dokumente die letzten Verweise auf individuelle Existenzen sind, wie Thomas Elsaesser zu Beginn seines Films formuliert: „Familienfilme sind Relikte der Erinnerung und Ruinen des Zufalls. Wir begegnen Personen und Orten, die für immer verschwunden sind. Manchmal sind sie deren Existenz einziger Beweis.“
Ein Film, der die eigene Recherche und die damit verbundenen Prozesse, Entdeckungen, aber auch Probleme auf besondere Art und Weise inszeniert ist THE HOST von Miranda Pennell. (UK, 2015), indem die Filmemacherin private Familienfotos mit Archivmaterial verknüpft und somit eine neue Perspektive auf die iranisch-britischen Ölindustrie der Fünfziger Jahren wirft. Ausgangspunkt ist hier ein Buch, das Pennell im Nachlass ihrer Eltern findet. Es trägt den Titel Eastern Odyssey und besteht aus einer Sammlung von reproduzierten, handschriftlichen Briefen, die ein junger Geologe in den Dreißiger Jahren während seiner Tätigkeit im Iran verfasste. Das Buch enthält eine Widmung an die Mutter Pennells und führt die Filmemacherin zu der Frau des Geologen, die damals nach den Pennells in jenem Haus in Teheran lebte, in dem die Filmemacherin ihre Kindheit verbrachte. Ihr Vater hatte dort für die britische Anglo-Persian Oil Company (AIOC) gearbeitet. Pennells Faszination für das Foto auf dem Cover des gefundenen Buches, das eine Pyramide zeigt, führt sie schließlich ins BP-Archiv, wo sie nach weiteren Fotos sucht. Die Suche im Archiv wird nun zum eigentlichen Thema des Films, inszeniert als ein Prozess der Recherche, bei dem das Archiv als Labor figuriert, in dem Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden können und in dem es neben der Suche nach historischer Evidenz auch um die Verortung der eigenen Biografie innerhalb einer Kolonialgeschichte geht.
Auch wenn der Film ausschließlich auf der Basis von Fotos auf visueller und einem Off-Kommentar sowie Musik auf auditiver Ebene realisiert wurde, wird das Archiv als Ort präsent. Die pragmatischen Begleitumstände der Archiv-Recherche werden im Film dargestellt und stilisiert; etwa indem eröffnend eine Fotografie einer Außenaufnahme des Archivgebäudes gezeigt wird, die auf der Tonebene von hallenden Schritten durch einen langen Gebäudegang untermalt wird. Oder dann, wenn im weiteren Verlauf des Films der konkret verortete Arbeitsprozess immer wieder durch Fotos, beispielsweise von einem leeren Notizbuch und einem Bleistift, von Textmarkern und angestrichenen Buchseiten, von weißen Handschuhen, von Akten, Ordnern und Scannern oder einer Sandwichbox, einem Kaffeebecher und einer Serviette unterbrochen wird.
Der Rechercheprozess wird jedoch nicht nur aus dem Off oder durch die Bilder von Archivgegenständen und Arbeitsutensilien verdeutlicht, sondern reflektiert sich auch in Pennells Montageverfahren mit dem sie versucht, eine anglozentrische, koloniale Blickposition herauszuarbeiten und zu unterlaufen. Dies geschieht einerseits durch explizit formulierte Gedanken und Reflexionen im Voiceover-Kommentar, andererseits durch Montage und Kamerabewegungen, indem durch Zooms, langsame Schwenks und das Fokussieren einzelner Details zunächst Unsichtbares in den Fotos (wieder) sichtbar gemacht wird. So filmt Pennell beispielsweise fotografische Aufnahmen, auf denen ein Fabrikgelände in der Totalen zu sehen ist, und auf denen zunächst keine Menschen sichtbar sind. Nach und nach fokussiert sie die kleinen schwarzen Punkte, die auf Umrisse oder Schatten verweisen, und zoomt so lange an diese heran, bis schließlich die iranischen Arbeiter im Foto zu sehen sind. Solche Effekte erzielt THE HOST jedoch nicht durch eine kontinuierliche Bewegung ins Bild hinein, sondern indem verschiedene Vergrößerungsstufen hintereinander montiert werden: Hier der Arm eines Arbeiters, dort der Fuß eines anderen, und da ein ganzes Gesicht. Ähnlich verfährt sie mit einem anderen Foto einer Gruppe britischer Männer in Anzügen an einem runden Tisch, indem deren Körper, Körperhaltung und Blicke durch die filmische Betrachtung in einzelnen Einstellungen hervorgehoben werden. „Eine Fotografie ist nur ein Fragment, dessen Vertäuung mit der Realität sich im Laufe der Zeit löst. Es triftet in eine gedämpft abstrakte Vergangenheit, in der es jede mögliche Interpretation (und auch jede Zuordnung zu anderen Fotos) erlaubt“, schreibt Susan Sontag. (Sontag 2008: 73) Indem Pennell die fotografischen Fragmente in weitere Fragmente zerlegt, sucht sie nach Interpretationen nicht nur zwischen den Fotos, sondern auch zwischen den Bildausschnitten. Auffallend ist bei Pennells Verfahren, dass die Fokussierung einzelner Ausschnitte oder Details dann meist aber keine objektiven Erkenntnisse oder Entdeckungen und keinen erkennbaren ‚Mehrwert‘ liefert, sondern sich zunächst an ein Detail heftet, das subjektiv als hervorstechend empfunden wurde. Die spezifische Auswahl der einzelnen Details scheint vor allem von der idiosynkratischen Wahrnehmung der Filmemacherin bestimmt und wird innerhalb des Films nicht unbedingt plausibilisiert.
Anstatt die Frage zu beantworten, worin die Recherche im Archiv besteht und wonach konkret gesucht wird, grenzt sich Pennell schon zu Beginn des Films explizit von dem Zweck, zu dem das fotografische Material ursprünglich archiviert wurde, ab: „The company would use aerial photography in order to pinpoint the location of the oil. Geologists would decipher these pictures using the principals of geophysics to interpret signs and identify hidden patterns. I by contrast have no method that will rationalize my search.“ Im Zusammenhang mit diesen Ausführungen thematisiert Pennell stattdessen den Effekt, den die fotografischen Dokumente auf sie haben, und beschreibt aus dem Off eine anhaltende Affizierung. Die Blicke, der ihr unbekannten Menschen aus einer anderen Zeit, scheinen sie aus den Abzügen heraus zu fixieren und motivieren sie zur weiteren Recherche: „I’m finding it hard to concentrate this afternoon. My attention is devided. All of a sudden, these tiny men regroup and look straight through the lense at me. I want to get them back into their books but they are holding me against my will.“
Im Zuge dessen wird dann nicht nur die konkrete Anwesenheit im Archiv, sondern auch die nachhallende Wirkung und persönliche Auseinandersetzung aus dem Off vermerkt: „When I eventually get out of the building, I feel completely drained. I’ve been staring out of the train window for twenty minutes before the ticket inspector informs me that I’m headed in the wrong direction. “ An dieser Stelle des Voiceovers bleibt das Bild schwarz, und neben Pennells Worten sind auf der Tonspur sich öffnende Zugtüren und Schritte zu hören. Kurz darauf ist im Bild dann das Foto eines aufgeschlagenen Buches über die Fünfziger Jahre im Iran zu sehen; aus dem Off ertönen dazu die Geräusche eines laufenden Fernsehers, die vermuten lassen, dass sie sich nun zu Hause in ihren Privaträumen befindet. Das kurz darauffolgende Statement aus dem Off markiert noch einmal, dass die Filmemacherin von ihrer Arbeit auch abseits des Archivs und sogar bis in den Schlaf begleitet wird: „Three o’clock next morning, I’ll be lying awake thinking, what if I don’t recognize the end when I reached it?“ Schließlich kommt die Recherche in THE HOST nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, kaum zum Abschluss. Vielmehr hat man es mit einer offenen Suche zu tun, die ziellos und fast schon als Selbstzweck erscheint.
Archivrecherchen haben einen eigenen ästhetischen Reiz: Das Betrachten und Berühren von Originalen und Raritäten, von vergilbtem Papier, von alten Fotos und Filmrollen hat, unabhängig von der sachlichen Erkenntnis, die daraus gewonnen werden kann, einen sinnlichen Reiz. Wie Sabine Nessel bemerkt hat, ist die „ästhetische Dimension“ (Nessel 2015:136) von Archiven und insbesondere dem Umgang mit den dort aufbewahrten obsoleten und ephemeren Medien bislang auch in der Film- und Medienwissenschaft nur selten reflektiert worden. Sie schlägt deshalb vor, eine historisch ausgerichtete Filmwissenschaft nicht nur theoretisch an Foucaults Archäologie-Konzept, sondern auch an dessen „archäologische Praxis“ (Nessel 2015: 133) anzulehnen, das heißt an seine Art des praktischen Umgangs mit und in Archiven. Nessel beschreibt, wie Foucault sich in seinen Texten als Forscher inszeniert und über seinen Umgang mit den archivierten Materialien reflektiert. Zentral ist dabei nach Nessels Darstellung vor allem die Frage, wie der Forscher (Foucault) selbst von dem Material berührt wird und in welchem Verhältnis er zu diesem steht. (Vgl. Nessel 2015: 134) Sie schlägt also vor, diese archäologische Praxis von Foucault als Modell zu nutzen um die eigene Haltung bei der Forschung in Filmarchiven zu reflektieren und das „Verhältnis der Forscher zu ihrem Gegenstand“ (Nessel: 2015: 136) stärker einzubeziehen.
Daran anknüpfend möchte ich im Folgenden zunächst noch einmal einen genaueren Blick in das Buch Das Leben der infamen Menschen werfen, in dem Foucault sich selbst in ein Archiv begibt. Darin beschreibt er detailliert seine Auseinandersetzung mit schriftlichem Archivmaterial und die Wirkung, die dieses Material auf ihn hat. Es handelt sich dabei um Dokumente aus dem 17. und 18. Jahrhundert und zwar vor allem um Bittschriften und Siegelbriefe, die der Forscher in verschiedenen Internierungs- und Polizeiarchiven studiert. Das einzig vordefinierte Kriterium der Auswahl ist dabei, dass es sich um kurze Texte handeln muss. Diese sollen außerdem keine literarischen oder poetischen Texte sein, sondern Schriftstücke, die sich auf faktuale Ereignisse beziehen: Anklagen, Befehle oder Berichterstattungen, die Personen betreffen, die einmal real existiert haben (datiert und mit Wohnort und Namen vermerkt). Personen, deren Existenzen obskur und unglücklich waren, so dass „aus dem Schock jener Wörter und jener Leben für uns immer noch ein Effekt von Schönheit und Schauer entsteht.“ (Foucault 2001: 12) Die Entscheidungen, die Foucault im Zuge seiner Sichtung trifft, beschreibt er nicht als rationale, sondern als subjektive, affektiv bestimmte:
Der Auswahl, die man hier vorfindet, liegt keine bedeutendere Regel zugrunde als mein Geschmack, mein Vergnügen, eine Rührung, das Lachen, die Überraschung, ein gewisser Schauder oder sonst ein Gefühl, dessen Intensität ich jetzt, da der erste Moment der Entdeckung vorüber ist, nur noch schwerlich rechtfertigen könnte. (Ebd. S.7)
Foucault beschreibt den ersten Eindruck der Texte auf ihn durchaus als physische, körperliche Wirkung und beobachtet an sich in der Rolle des Forschers, dass ihn in den Texten insbesondere das reizt, was zunächst ganz klein und insignifikant erscheint: „Ich war auf der Suche nach jenen Teilchen ausgegangen, deren Energieladung um so größer ist, je kleiner und unscheinbarer sie selbst sind.“( Ebd. S.15) Im Zusammenhang mit einem gemeinsam mit Foucault durchgeführten Archiv-Projekt über die familiären Konflikte im 18. Jahrhundert, beschreibt auf ähnliche Weise auch Arlette Farge, dass das Archivmaterial gerade deshalb so außergewöhnlich und spannend gewesen sei, weil es (noch) nicht in eine Erzählung eingebettet sei und unvermittelt eine Welt eröffne, „in der die Verdammten, die Elenden und die Galgenvögel in einer lebendigen und instabilen Gesellschaft ihren Part spielen. Seine Lektüre provoziert sofort einen Effekt des Wirklichen, den kein Druckwerk hervorrufen kann, mag es auch noch so unbekannt sein.“ (Farge 2011: 9-10) Ähnlich wie Foucault beschreibt auch Farge die spezifische Wirkung des im Archiv erschlossenen Materials: „Als sei der Beweis dessen, was die Vergangenheit war, endlich da, definitiv und nah. Als würde einem, indem man die Ordner öffnet, das Privileg verliehen, endlich das ‚Wirkliche zu berühren‘.“ (Ebd. S.14)
Diese „Effekte des Wirklichen“, die laut Farge und Foucault von archivierten Dokumenten ausgehen, erinnern auf frappierende Weise auch an fototheoretische Texte von Roland Barthes und Walter Benjamin in denen diese die Effekte fotografischer Aufnahmen beschreiben. So schreibt beispielsweise Benjamin in der Kleinen Geschichte der Photographie über gealterte Fotografien, in denen er noch eine Aura zu erkennen vermag, dass das, was darauf zu sehen ist, sich jeglicher Codierung zu entziehen scheine. So schreibt er über ein Foto von David Octavius Hill aus dem Neunzehnten Jahrhundert:
In jenem Fischweib aus New Haven, das mit so lässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Photographen Hill nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänzlich in die ‚Kunst‘ wird eingehen wollen. (Benjamin 2007: 355)
Auf diesen der Fotografie eingeschriebenen Verweis auf die potenzielle Insistenz und Faszinationskraft, die von einem Foto ausgehen kann, nimmt in ähnlicher Weise Foucault Bezug, wenn er die eindrückliche Wirkung mit Blick auf schriftliche Dokumente thematisiert:
Die kurzen und gellenden Worte, die zwischen der Macht und den unwesentlichen Existenzen hin und her fahren, sind für diese das einzige Monument, das man ihnen je zugestanden hat. Nur dieses die Zeit durchquerende Monument verleiht ihnen den kleinen Strahl, den kurzen Blitz, der sie bis zu uns trägt. (Foucault 2001: 18)
Metaphern wie der „kleine Strahl“ und der „kurze Blitz“ evozieren implizit das technische Verfahren der analogen Fotografie, deren Bilder nichts anderes sind als das Resultat einer Lichteinwirkung, eines kurzen Blitzes, der den fotografischen Abdruck generiert. Noch deutlicher wird die offensichtlich gesuchte Analogie zum Fotografischen in folgender Metapher: „Damit etwas von ihnen bis zu uns herüberkomme, bedurfte es allerdings eines Lichtbündels, das sie – einen Augenblick zumindest – beleuchten kam.“ (Ebd. S.18) Und auch die folgende Formulierung von Arlette Farge kann mit Benjamins viel zitierter Formel von der „Ferne, so nah sie auch sein mag“ assoziiert werden: „Es ist ein seltenes Gefühl, diese plötzliche Begegnung mit unbekannten, verunglückten und erfüllten Existenzen, welche das Nahe (so Nahe!) und das Ferne, Verflossene vermischen, als gelte es, möglichst viel Verwirrung zu stiften.“ (Ebd. S.12)
Neben Benjamin lassen sich auch zu Roland Barthes heller Kammer Assoziationen herstellen. Hierbei ist es jedoch gerade nicht der melancholische Blick auf die Ferne und das Unerreichbare, sondern eine Nähe, die bei Barthes ähnlich wie bei Foucault mit einem physischen Eindruck beschrieben wird. Diesen Effekt, den Foucault mit Begriffen wie „Überraschung“ oder „Schauer“ (Foucault: 2001: 12) beschreibt, definiert Barthes über den Begriff des ‚punctums‘, mit dem ein Detail gemeint ist, das bei der Betrachtung einer Fotografie eine unmittelbare Wirkung hinterlässt, die plötzlich auftaucht, den/die Betrachter*in besticht und eine kurze, blitzartige Erschütterung auslösen kann. (Vgl. Barthes 1989: 52-53)
Neben den motivischen und sprachlichen Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Passagen in den fototheoretischen Texten von Walter Benjamin und Roland Barthes und den Beschreibungen von Michel Foucault und Arlette Farge zu ihrer Archiv-Arbeit, lassen sich deutliche Korrespondenzen zum Vorgehen der hier vorgestellten Filme erkennen. Denn auch diese filmischen Inszenierungen sind darauf aus, die ‚Effekte des Wirklichen‘, die das gefundene oder auch vorsätzlich recherchierte Material auslösen kann, hervorzurufen. Zugleich sind sie bestrebt, ihren Rechercheprozess im Rahmen des Films permanent zu reflektieren und kenntlich zu machen. So erinnert Foucaults (scheinbar) unsystematische, affektiv bestimmte Suche nach etwas ‚Wirklichem‘ an Pennells unbestimmte Recherche in THE HOST, die sich, wie oben beschrieben, ebenfalls von subjektiv empfundenen Reizen des Materials leiten lässt. Die zunächst nicht rational plausibilisierbaren Effekte des Materials, die eine idiosynkratische Auswahl generieren, führen auch in THE HOST häufig zu konzentrierten Großaufnahmen, die weniger als Methode einer planvollen Suche erscheinen, sondern vielmehr ähnlich nicht-diskursivierbar und irrational wie das Barthe‘sche ‚punctum‘ sind.
Was sich in THE HOST schließlich offenbart, sind viele kleine, nicht immer zusammenhängende, aber durchaus aufschlussreiche Beobachtungen zur iranischen Öl-Industrie der Fünfziger und Sechziger Jahre, über deren kolonialgeschichtliche Hintergründe und über das Leben der iranischen Arbeiter, die in den Fabriken tätig waren und die Rohrleitungen durch die Berge legten, aber auch über die durch diese kolonialen Verhältnisse geprägte Kindheit der Filmemacherin, die mal im Pool, mal auf der Terrasse oder im Garten auf dem Schoß ihrer Mutter in die Kamera lacht.
Medienarchäologie bezeichnet nicht nur eine unorthodoxe Methode der Medienhistoriographie, sondern mitunter auch künstlerische Ansätze, die mit vorgefundenem Material arbeiten und dabei „die unbeständige Materialität von Mediendingen wie Filmrollen und Filmkassetten und die machtpolitisch wechselvolle Geschichte von Depots und Archiven gleichermaßen in den Mittelpunkt“ stellen. (Löffler, 2017: 12) Wie Petra Löffler unter anderem in Anlehnung an die Arbeiten von Christa Blümlinger und Jamie Baron gezeigt hat, können gerade essayistische und experimentelle Filme sinnvoll als „medienarchäologische Praxis“ (Löffler, 2017: 9) beschrieben werden. Löffler bezieht sich dabei vor allem darauf, dass die Konstruktion solcher Filme der für die Medienarchäologie kennzeichnenden epistemologischen Offenheit entspricht, immer nur „vorläufiges Wissen“ (Löffler, 2017: 2) zu produzieren: Indem sie die „die Lücken, Brüche und Zwischenräume, die jedes Archiv notwendigerweise aufweist, bei der Aufbereitung historischen Filmmaterials hervortreten […] lassen und auf die prekäre Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen aufmerksam […] machen.“ (Löffler 2017: 9).
Die oben diskutierten Filme stehen hierzu kaum im Widerspruch – gerade in THE HOST werden Lücken und Zwischenräume aus- und hergestellt, Assoziationen offengelegt und Wissen als eine Sache der Details betont. Auch wenn sich unmittelbare Parallelen erkennen lassen und Pennells Film somit als ‚medienarchäologische Praxis‘ im Sinne Löfflers gefasst werden könnte, rückt bei den oben diskutierten Filmen noch etwas anderes in den Fokus: Die in den Filmen reflektierten Recherche- und Suchbewegungen erzeugen nämlich nicht nur eine der medienarchäologischen Historiographie vergleichbare Offenheit der Konstruktion, sondern machen vor allem auch das ganz subjektive Verhältnis zum Archiv, Nachlass oder Zufallsfund zum zentralen Thema der Filme. Eben dadurch, dass sie das „Verhältnis der Forscher zu ihrem Gegenstand“ (Nessel: 2015: 136) ins Zentrum rücken, lassen sich die Filme nicht nur als filmische Anwendung der Medienarchäologie verstehen, die theoretisch an Foucault anschließt, sondern auch und vor allem mit dessen Beschreibungen der eigenen Archivpraxis zusammenbringen. Denn die Haltung der von Sabine Nessel so genannten „archäologische Praxis“ spiegelt sich auch in den Filmen, die von der körperlichen Präsenz der Filmemacher*innen in Archiven und inmitten nachgelassener Materialien ausgehen und durch unbestimmte Suchen und unwillkürliche Funde strukturiert sind. So wird in DIE SONNENINSEL, THE HOST und UNCLE HOWARD das Archiv der eigenen Familie oder einzelner Familienmitglieder zum Ort der Begehung, ebenso wie zum Gegenstand der Befragung und Betrachtung. In Filmen wie FINDING VIVIAN MAIER und A STORY FOR THE MODLINS sind es hingegen die mysteriösen und fragmentarischen Nachlässe der unbekannten Nanny und der Familie Modlin, die mit einer suchenden und affektiven, aber auch spekulativen und fiktionalisierenden Lektüre konfrontiert werden. Dabei bewegen sich die Filmemacher*innen – und auch das ist eine Parallele zu den Texten von Foucault und Farge – immer auf einem schmalen Grat zwischen der Bereitschaft, sich vom Material leiten zu lassen, oder die eigene Selbstinszenierung in den Vordergrund zu stellen.
Barthes, Roland (1989) Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (2007) Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders.: Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik. Hg. von Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (2009) Einleitung, in: Dies. (Hg.) Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, S. 7-26
Elsaesser, Thomas (2016) Die Geschichte, das Obsolete und der found footage Film, in: Hohenberger, Eva/Mundt, Kathrin (Hg.) Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst. Berlin: Vorwerk 8 2016, S. 135-155.
Farge, Arlette (2011) Der Geschmack des Archivs. Göttingen: Wallstein.
Foucault, Michel (2001) Das Leben der infamen Menschen. Berlin: Merve.
Groebner, Valentin/Steinfeld, Thomas (2018) Kann man das wegwerfen? Editorial, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Jg. 38 Heft 149 Kromsdorf 2018, S. 3-4.
Löffler, Petra: Medienarchäologie und Film, in: Groß, Bernhard/Morsch, Thomas (Hg.) Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016.
Nessel, Sabine (2015) Amateurfilm-Werden. Hybridität des Amateurfilms und Foucaults archäologische Praxis, in: Mattl, Siegfried/Lesky, Carina u.a. (Hg.) Abenteuer Alltag, Zur Archäologie des Amateurfilms. Wien: Synema 2015, S. 127-136.
Sontag, Susan (2008) Über Fotografie, Frankfurt am Main: Fischer.
Wirth, Uwe (2005) Archiv, in: Roesler, Alexander/ Stiegler, Bernd Stiegler (Hg.) Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink 2005, S. 17-27.