Zu Slavoj Zizeks Buch Die Furcht vor echten Tränen: Krzyzstof Kieslowski und die "Nahtstelle", Berlin: Volk & Welt 2001
Slavoj Zizek, der nicht nur seit nunmehr einer Dekade lacanianische Analysen unserer Populärkultur unternimmt, sondern mittlerweile selbst zu einem Teil der - wenigstens akademischen - Populärkultur geworden ist, hat im vergangenen Jahr mit Die Furcht vor echten Tränen: Krzyzstof Kieslowski und die "Nahtstelle" erneut ein Buch vorgelegt, das auf den Leser eine wahre Sturzflut von Themen niedergehen läßt. Wieder einmal wartet Zizek mit faszinierenden, da überraschenden und dennoch nachvollziehbaren Thesen auf, und abermals gelingt es ihm dabei, einem äußerst heterogenen Material eine erstaunlich klare Ordnung zu verleihen.
Da wäre zunächst eine ganze Reihe gesellschaftstheoretischer Themen. Unter ihnen nimmt das Christentum einen privilegierten Platz ein, dessen ethisches Potential Zizek bekanntlich schon vor einiger Zeit entdeckt hat und dem er sich diesmal über die Filme des polnischen Regisseurs Krzyzstof Kieslowski annähert. Wie das zu bewerkstelligen sei, liegt im Falle des DEKALOGs (1987-88) auf der Hand, wenngleich Zizek auch hier eine interessante Neuzuordnung zwischen den einzelnen Folgen des Zyklus und den zehn Geboten vornimmt (Zizek 2001: 127ff.). Bei der DREI FARBEN-Trilogie (1993-1994) stellt Zizek den christlichen Bezug dadurch her, daß er in der Trikolore nicht nur die bürgerlichen Menschenrechte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (ebd.: 199) bzw. die Hegelsche Trias von Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Gemeinschaft (ebd.: 213), sondern auch die christlichen Tugenden von Glaube, Liebe, Hoffnung symbolisiert sieht (ebd.: 200). Dem Dekalog als Bebilderung der ethischen Prinzipien des Alten Testamentes treten so die Drei Farben als Darstellung der Werte des Neuen Testamentes an die Seite, wobei letzteren die Aufgabe zufallen soll, die in sich defizienten humanistischen Werte zu ergänzen und mit den ihnen entgegenstehenden alttestamentarischen Geboten zu vermitteln (ebd.: 199f., 211).
Darüberhinaus wie auch im Zusammenhang damit kommt Zizek natürlich auch auf seine psychoanalytischen Lieblingsthemen zurück: Erneut geht es um das Objekt klein a, den Fetisch und das sinthome. Abermals behandelt Zizek das Verhältnis von symbolischer Realität und traumatischem Realem. Neu ist dabei, daß Zizek dieses Thema nun, im vierten und fünften Unterkapitel von Die Furcht vor echten Tränen, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen alternativen Realitäten und dem damit verbundenen Problem von Freiheit, Kontingenz und Determination erweitert. Noch einmal schließlich kommt Zizek auf die Unmöglichkeit des Geschlechterverhältnisses und des Geschlechtsverkehrs zurück, wobei er diesmal eine griffige Formel für die männlich-obsessive (nicht diese, sondern eine andere Frau begehre und liebe ich) und die weiblich-hysterische (nicht ich, sondern eine andere Frau begehrt und liebt diesen Mann) Variante dieser Unmöglichkeit findet (ebd.: 76f., 95). Zum Weiterdenken regt auch die an Ernesto Laclau angelehnte Rückführung der sexuellen Differenz von männlich und weiblich auf die grundlegendere Differenz von sexuell und asexuell an (ebd.: 156ff.).
Schließlich verknüpft Zizek diese psychoanalytischen Probleme auch in seinem Kieslowski-Buch wieder mit formalästhetischen Fragestellungen. So interessiert ihn unter den Objekten klein a erneut vor allem der Blick, den er wie schon in Liebe den Symptom wie dich selbst! abermals mit Derridas Konzept des Parergons verknüpft (ebd.: 157f.). Eine neue Facette gewinnt er diesen alten Reflexionen ab, wenn er auf ein klassisches und längst vergessen geglaubtes Konzept der psychoanalytischen Filmtheorie, nämlich auf die suture, die Nahtstelle, zurückgreift und dieses mit dem von ihm entwickelten Gegenkonzept des interface, des Kurzschlusses, konfrontiert - ein Vorgehen, das ausdrücklich dazu dienen soll, die psychoanalytische Filmtheorie gegen die fundamentale Kritik durch die neoformalistisch-kognitivistische Post-Theorie in Schutz zu nehmen (ebd.: 15, 45).
Ein wenig bedauerlich ist, daß ein Großteil der in Die Furcht vor echten Tränen aufgestellten Thesen dem aufmerksamen Leser bereits aus Zizeks früheren Büchern vertraut ist. Darüberhinaus stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, daß die Ordnung, in die Zizek sein Material zu bringen versucht, dessen Einzelheiten manchmal Gewalt antut. So ist etwa, um hier nur ein willkürliches Beispiel herauszugreifen, die Zuordnung des DEKALOGs zu einer männlichen, der DREI FARBEN-Trilogie zu einer weiblichen Perspektive (ebd.: 201ff.) zu schematisch geraten, scheint doch WEIß (1994), das Mittelstück der Trilogie, eher aus männlicher denn aus weiblicher Sicht erzählt zu sein. Weiteren Beispielen für einen solchen Mangel an Präzision werden wir noch begegnen.
Vor allem aber ist der Leser durch den Titel des Buches in die Irre geführt: Nicht nur, daß Zizek - in weitgehender Vernachlässigung des Untertitels - neben Kieslowski noch viele andere Regisseure (unter ihnen natürlich erneut Hitchcock), Schriftsteller und Komponisten behandelt und das letzte Oberkapitel sogar vollständig David Lynch und Andrej Tarkowskij widmet. Auch die Tränen, auf die neben dem Haupttitel auch die Kapitelüberschriften "Das Individuelle: Lacrimae rerum" und "Das Glück hat auch seine Tränen" verweisen, werden durch das weite Spektrum der anderen Themen an den Rand gedrängt: Während Kieslowski zwar nicht den einzigen, immerhin aber noch den zentralen konkreten Gegenstand des Buches bildet, kommt auf der abstrakten Ebene dem Weinen nicht einmal mehr eine solche Zentralität zu. Vielmehr geht Zizek auf dieses Thema nur an einigen wenigen, weit verstreuten Stellen seines Buches ein. In einigen Kapiteln findet es überhaupt keine Erwähnung, etwa im Anhang über Lynch und Tarkowskij, obwohl sich die notorische Feuchtigkeit in den Filmen des letzteren vielleicht in eine Beziehung zur Feuchtigkeit der Tränen hätte setzen lassen. In ähnlicher Weise unterläßt Zizek auch eine Verknüpfung des Themas des Geschlechtsverhältnisses und -verkehrs mit demjenigen des Weinens. Weder geht er dem Problem nach, daß und warum Frauen schneller in Tränen auszubrechen scheinen als Männer, noch untersucht er - wie es etwa Linda Williams getan hat (Williams 1991) - die Frage, ob es zwischen den Tränen und jenen anderen Körperflüssigkeiten, die beim Sexualakt freigesetzt werden, einen Zusammenhang geben könnte. Es scheint also, als habe Zizek die Furcht vor echten Tränen zu einer Flucht vor denselben veranlaßt.
Doch auch wenn das Weinen in Die Furcht vor echten Tränen nur eine marginale Position einnimmt, so kommt Zizek auf diesen Gegenstand zumindest immer wieder zurück, und dies meist im Zusammenhang mit den anderen Fragestellungen des Buches und damit an entscheidenden Stellen der Argumentation. Hält man diese Stellen nebeneinander, so ergibt sich ein manchmal überraschender Zusammenhang, ein Zusammenhang, der vielleicht auch Zizek selbst entgangen sein könnte: Das Weinen bildet so etwas wie einen geheimen roten Faden durch das Buch oder, um mit einem Philosophen, den Zizek wiederholt mit Lacan zu versöhnen versucht, nämlich mit Deleuze, zu sprechen: eine Fluchtlinie. Zizek scheint weniger vor als vielmehr auf dem Thema des Weinens zu fliehen.
In einer Hinsicht führen der Titel des Buches und die angeführten Kapitelüberschriften aber doch in die richtige Richtung, da es sich in allen drei Fällen um ein Zitat handelt: "Furcht vor echten Tränen" stammt aus dem Munde Kieslowskis, "Lacrimae rerum" aus Vergils Aeneis und "Auch das Glück hat seine Tränen" aus Veit Harlans Melodram IMMENSEE (1943). Demnach bezieht sich Zizek hier auf das Weinen niemals direkt, sondern stets vermittelt.
Daß aber das Weinen selbst eine vermittelte Angelegenheit sei, ist eine der zentralen Thesen, welche in Die Furcht vor echten Tränen - in Wiederaufnahme und Weiterführung von Zizeks früheren Büchern Liebe dein Symptom wie dich selbst! und Grimassen des Realen - zum Thema 'Weinen' formuliert werden. Die Instanz dieser kulturellen Vermittlung, so Zizek, sei die symbolische Ordnung. Denn das Weinen wende sich an den Blick des großen Anderen und sei durch ihn bestimmt. (Zizek 2001: 235)
Im dritten Unterkapitel mit dem Titel "Jetzt habe ich ja Glyzerin!" sieht es zunächst noch so aus, als behaupte Zizek das Gegenteil. Zizek begründet hier Kieslowskis Übergang vom Dokumentar- zum Spielfilm in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit der Erkenntnis des Regisseurs, daß der Dokumentarfilm zu häufig zu einem obszönen Eindringen in die Intimsphäre anderer Menschen führe (ebd.: 66). Anlaß für diese Einsicht, der Kieslowski auch in seinen späteren Spielfilmen DER FILMAMATEUR (1979), DIE ZWEI LEBEN DER VERONIKA (1991) und ROT (1994) Ausdruck verliehen habe (ebd.: 67f.), sei aber sein Dokumentarfilm ERSTE LIEBE (1974) gewesen, an dessen Ende ein frisch verheirateter Vater nichts geringeres tut, als sein neugeborenes Kindes in die Kamera zu halten und dabei zu weinen (ebd.: 66). Kieslowskis Abwendung vom dokumentarischen Ansatz speise sich mithin aus der besagten "Furcht vor echten Tränen", und seine Hinwendung zum Fiktionskino lasse sich als ein Ausweichen auf die künstlichen Tränen des "Glyzerin[s]" beschreiben (ebd.: 67). Somit scheint das Weinen hier den Inbegriff der intimsten und damit unmittelbarsten Realität zu bilden.
Doch zugleich untergräbt Zizek den Gegensatz von Realität und Fiktion, indem er zu zeigen versucht, daß erstere durch und durch von letzterer bestimmt sei: In ihrer öffentlichen Variante beruhe sie auf symbolischen Rollen und Masken, in ihrer intimen Variante auf - an den großen Anderen adressierten - Phantasmen (ebd.: 71ff.). Die Dokumentarfilme Kieslowskis, ja alle Dokumentarfilme überhaupt zeigten Menschen nicht so, wie diese wirklich seien, sondern wie sie sich vor der Kamera selbst spielten, und erzeugten im Zuschauer daher keinen Realitäts-, sondern einen Irrealitätseffekt (ebd.: 66, 71f.).
Hieraus ergibt sich nun eine ganz andere Begründung für Kieslowskis Wechsel von der Dokumentation zur Fiktion: Der Wechsel erscheint jetzt nicht mehr als durch den Respekt vor der Intimsphäre anderer Menschen motiviert. Vielmehr soll der Spielfilm Kieslowski einen Ausweg aus der Fiktionalität des Dokumentarfilmes geboten haben, weil er sich zur Dokumentation des Akts des Spielens selbst habe einsetzen lassen. Kieslowski habe demnach auch nach seinem Übergang zum Spielfilm an seinem realistischen Anspruch festgehalten, weshalb ihn das moralische Problem des Dokumentarfilmes am Ende auch auf dem Feld des Spielfilmes eingeholt und so zum Verzicht auf das Filmen überhaupt gezwungen habe. (ebd.: 80f.)
Vor allem aber ergibt sich aus der These von der fiktionalen Verfaßtheit der Realität, daß auch die Tränen des Vaters in ERSTE LIEBE keineswegs unmittelbare Realität, sondern Effekt eines Phantasmas gewesen sein müssen. Zizek zieht diesen Schluß zwar nicht mehr selbst. Unmißverständlich ausgesprochen wird die Behauptung einer symbolischen Vermitteltheit des Weinens jedoch im siebten und achten Unterkapitel von Die Furcht vor echten Tränen, und zwar anhand der DREI FARBEN-Trilogie.
Jeder der drei Teile dieses Zyklus, so Zizek, beginne mit dem schockierenden, traumatischen Verlust des Wertvollsten im Leben eines Menschen und damit der ganzen symbolischen Realität, also mit dem symbolischen Tod dieses Menschen (ebd.: 208ff.) - ein Ereignis, das sich mit Hegel auch als Kontraktion der abstrakten Freiheit beschreiben lasse (ebd.: 223ff.). Zizek ergänzend, ist hierzu anzumerken, daß in ROT das Trauma bereits lange vor dem Beginn der Handlung eingetreten ist, daß in BLAU (1993) der symbolische Tod Julies durch den realen Tod ihres Mannes und ihres Kindes herbeigeführt wird und daß schließlich in WEIß gleich mehrere Tode gestorben werden: Nicht genug damit, daß Karol von seiner Ehefrau Dominique verlassen und seines Friseurladens beraubt wird, fingiert er später selbst seinen realen Tod. Nikolai, eine andere Figur des Filmes, hat symbolisch bereits mit seinem Leben abgeschlossen, so daß es nur konsequent ist, wenn Karol sich gleich zweimal wie über einen Untoten über ihn erschrickt, und sucht nun jemanden, der seinen realen Tod vollstreckt. Karol aber, dem diese undankbare Aufgabe zufallen soll, erschießt Nikolai mit einer Platzpatrone nur zum Schein.
Über die Folgen der Traumatisierung für den phantasmatischen Rahmen der Figuren äußert sich Zizek am Beispiel von BLAU widersprüchlich: An einer Stelle heißt es, daß Julies riesenhaft vergrößertes Auge sowohl am Anfang als auch am Ende auf "eine phantasmatische Szene" blicke, wobei der einzige Unterschied in einer zunächst dunklen, dann hellen Ausleuchtung der Bilder bestehe (ebd.: 224). Hier scheint Zizek ähnlich wie im ersten, blicktheoretischen Oberkapitel seines Buches Lacans Bestimmung des Phantasmas als Konfrontation des gebarrten Subjekts mit dem Realen seines Objekts klein a zugrundezulegen. An drei anderen Stellen behauptet Zizek hingegen, daß erst die zweite Szene die "Wiederherstellung" des "phantasmatischen Rahmens" präsentiere (ebd.: 222), während die erste Szene einen "vorphantasmatischen" Charakter habe (ebd.: 230), Julie in ihr "des Schutzschirms der Phantasie beraubt" sei (ebd.: 231). Hier versteht Zizek unter dem Phantasma offensichtlich nicht mehr eine Begegnung des Subjekts mit dem Realen, sondern - analog zur symbolischen Ordnung - eine Abschirmung des Subjekts vom Realen.
Jedenfalls, fährt Zizek fort, seien die Figuren nach ihrer Traumatisierung - ähnlich wie die Titelfigur von Sophokles' Antigone - in den Raum zwischen den beiden Toden, zwischen dem symbolischen und dem realen Tod, in den Raum der ate, gestellt und damit jenem Realen, vor dem sie bisher durch die symbolische Realität geschützt wurden, unmittelbar exponiert (ebd.: 221). Dabei sei Julie, die Protagonistin von BLAU, sowohl dem inneren Realen der Erinnerung an das letzte Musikstück ihres Mannes als auch dem äußeren Realen des Lebensprozesses der neugeborenen Mäuse ausgesetzt (ebd.: 231).
Alle drei Teile des Zyklus enden Zizek zufolge mit dem Wiedergewinnen der nötigen Distanz vom Realen durch den Wiedereintritt in die symbolische Ordnung, hegelianisch gesprochen: mit der Expansion der konkreten Freiheit (ebd.: 208ff., 223ff.). Ermöglicht werde das durch den Abschluß der Trauerarbeit, zu dem wiederum in jedem der drei Teile eine andere der drei neutestamentarischen Tugenden die Voraussetzung bilde: in BLAU die Liebe, d.h. natürlich die agape, die Nächstenliebe, in WEIß die Hoffnung und in ROT der Glaube (ebd.: 200, 225).
Das Gegenstück zu den DREI FARBEN und insbesondere zu BLAU bildet für Zizek innerhalb des Kieslowskischen Werkes der Film OHNE ENDE (1984). Denn ähnlich wie in BLAU werde hier eine Frau vom inneren Realen der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann heimgesucht; anders als Blau ende der Film jedoch nicht mit der Rückkehr der Frau in die symbolische Ordnung, sondern - erneut in Übereinstimmung mit Sophokles' Antigone - mit ihrem Selbstmord, d.h. mit der Vollendung ihres symbolischen Todes im realen Tod. (ebd.: 214)
Entgegengesetzt sei die DREI FARBEN-Trilogie aber auch der psychoanalytischen Kur, deren Ziel nicht in der Wiederherstellung, sondern in der Durchquerung des Phantasmas bestehe (ebd.: 231) - zumindest, so müßte präzisierend hinzugefügt werden, dem früheren Lacan zufolge, während der spätere Lacan bekanntlich die Behandlung dann als abgeschlossen betrachtete, wenn der Analysand dazu bereit war, sich mit seinem sinthome als der ihm einzig zugänglichen Form des Genießens zu identifizieren.
Für unseren Zusammenhang entscheidend ist nun, daß Zizek zufolge in allen drei Teilen des Zyklus die Hauptfigur zu Beginn noch unfähig ist zu weinen - ja Julie kann in BLAU zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal das Weinen eines anderen, nämlich der alten Dienerin, ertragen - und erst am Ende in Tränen ausbricht (ebd.: 218, 225, 233f.). Denn damit können Kieslowskis DREI FARBEN als eine Illustration von Zizeks These gelten, daß das Weinen nur innerhalb der symbolischen Ordnung möglich und an den großen Anderen adressiert sei (ebd.: 235). Dabei läßt sich vielleicht hinzusetzen, daß das Zurückhalten und das Verströmen der Tränen den physiologischen Ausdruck der Hegelschen Kontraktion und Expansion bilden.
Gewissermaßen die zweite Phase dieses Prozesses von Traumatisierung und Rehabilitierung hatte Zizek schon in Grimassen des Realen beschrieben. Dort nämlich hatte er betont, daß Karin, die Protagonistin von Rossellinis Film STROMBOLI (1949), nur deshalb auf dem Vulkan in wildes Schluchzen ausbreche, weil sie trotz der Konfrontation mit dem äußeren Realen des Vulkans sich selbst von der symbolischen Ordnung nicht lossage, und daß von jener radikalen Form des Selbstmordes, die aus dem Symbolischen ins Reale hinausführe, der Selbstmord innerhalb der symbolischen Ordnung, der lediglich eine "schluchzende Warnung" an den großen Anderen darstelle, streng zu unterscheiden sei (ebd.: 40f.). Demgegenüber kann man die erste Etappe der in den DREI FARBEN inszenierten Entwicklung vielleicht in jenen neorealistischen und lateinamerikanischen Filmen wiederentdecken, deren kindliche Protagonisten, wie Michaela Ott in ihrem Beitrag Der Fall der Tränen zur vorliegenden Nummer von Nach dem Film herausgearbeitet hat, trotz ihrer prekären Situation gerade nicht weinen, und zwar deshalb, weil sie wegen ihres geringen Alters und ihres schier körperlichen Überlebenskampfes nicht über die dazu nötige Selbstdistanz und -reflexion verfügen (Ott 2002: 5f.), weil sie sich also - wie der Junge Edmund in DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL (1947), einem anderen Film Rossellinis - im Jahre Null der Subjektivität befinden.
Auf der Folie dieses engen Zusammenhangs zwischen dem Weinen und dem Symbolischen läßt sich an Zizeks Bemerkung über den Gegensatz zwischen dem DREI FARBEN-Zyklus und der analytischen Behandlung die Frage anknüpfen, ob denn in letzterer gegenüber ersterem die Reihenfolge von Ab- und Anwesenheit der Tränen umzukehren sei. D.h. ist es möglicherweise Ziel der analytischen Behandlung, und zwar beiden Lacanschen Konzeptionen zufolge, den Analysanden von jenen Tränen, die im Verlauf der Behandlung sicherlich oft genug fließen, durch die Konfrontation mit dem Realen am Ende zu befreien? Hierauf scheinen immerhin zwei Aspekte der Lacanschen Psychoanalyse hinzudeuten: die Tatsache, daß Lacan die tragisch-aristotelische katharsis gerade nicht als eine Steigerung, sondern als eine Beseitigung der auf imaginären Identifikationen beruhenden Gefühle der Furcht und des Mitleids (Lacan 1997: 247f.) und damit wohl auch - folgt man Lessings Theorie des bürgerlichen Trauerspiels - des Weinens auslegte; und der Umstand, daß Lacan die analytische Behandlung zu einer tragischen Veranstaltung erklärte, die zu ihrem Vorbild den geblendeten Ödipus auf Kolonos habe (ebd.: 289ff.), wobei hinzuzusetzen wäre, daß letzterer allein schon deshalb nicht mehr weinen kann, weil ihm die Augen dafür fehlen.
Wenn das von einem schweren Leid betroffene und daher seiner symbolischen Verankerung beraubte Individuum selbst nicht weinen kann, so fällt dies außenstehenden Zeugen, die noch fest auf dem Boden des Symbolischen stehen, in der Regel leichter. Hiervon ist die Rede im sechsten Unterkapitel "Verschobene Gesetze" von Die Furcht vor echten Tränen, das dem DEKALOG gewidmet ist. Am Ende von DEKALOG 1, so heißt es hier, werde bei der Verwüstung der Kirche durch den über den Tod seines Sohnes verzweifelten Vater das Wachs der Kerzen über einem Bildnis der Madonna verspritzt (Zizek 2001: 137f.). Zizek betrachtet dieses Ereignis als doppeldeutig: Stelle man das Schmelzen des Wachses in eine Kette mit dem vorherigen Schmelzen der Milch und des Eises, so scheine es "nur irgendein weiterer dummer Zufall" zu sein. Insofern aber, als die Wachsspritzer wie Tränen der heiligen Jungfrau aussähen, wirkten sie wie "Zeichen des göttlichen Mitleids". (ebd.: 147) Folgt man der zweiten Lesart, so werden in DEKALOG 1 ähnlich wie in den drei Teilen des DREI FARBEN-Zyklus am Ende Tränen vergossen. Im Unterschied zu Erste Liebe geht es dabei nicht mehr - um noch einmal die tragische Verknüpfung von Furcht und Mitleid aufzugreifen - um Furcht vor Tränen, sondern um Tränen aus Mitleid. Dabei ist entscheidend, daß der traumatisierte Vater selbst gerade nicht weint, ja daß er - und hier wäre Zizek zu korrigieren (ebd.: 146f.) - nicht einmal spricht, daß seine Anklage an Gott stumm bleibt, so daß hier das Weinen von einer Person auf eine andere verschoben ist, ähnlich wie Zizek zuvor bereits ausgeführt hat, daß Scham stellvertretend empfunden werden kann (ebd.: 69).
Zizek zufolge stellt der gesamte DEKALOG - und mit ihm einige weitere Filme Kieslowskis wie DIE ZWEI LEBEN DER VERONIKA, DER FILMAMATEUR oder GEFÄHRLICHE RUHE (1976) - dem Symbolischen eine andere Form des Realen gegenüber als die DREI FARBEN-Trilogie, nämlich nicht mehr den Bereich zwischen den beiden Toden, sondern die Treue zum Begehren, aus deren Perspektive das Verbleiben in der symbolischen Ordnung als eine Leugnung des Begehrens zugunsten eines ruhigen Lebens erscheine (ebd.: 167ff.). Dieser Gegensatz sei aber derjenige von Ismene und Antigone (ebd.: 172) oder, auf den Begriff gebracht: derjenige von symbolischer Moral und realer Ethik (ebd.: 167ff.). Auch Kieslowski selbst, führt Zizek aus, habe sich in seinem Leben zunächst für die Ethik, nämlich für das Drehen von Filmen, dann aber für die Moral, nämlich für den Rückzug in ein beschauliches Leben auf dem Land, entschieden (ebd.: 168).
Zwischen dieser Interpretation des gesamten DEKALOGs und Zizeks Analyse der ersten Folge dieses Zyklus besteht aber ein interner Zusammenhang. Denn Lacans Seminar VII über Die Ethik der Psychoanalyse, auf das sich Zizek bei seiner Interpretation stützt, läßt sich entnehmen, daß jenes Mitleid, das in DEKALOG 1 die Madonna zum Weinen veranlaßt, zusammen mit jener Furcht, der in Antigone der Tyrann Kreon erliegt, die Affekte der Moral bildet, während Märtyrer wie Antigone, die der Ethik folgen, weder Furcht noch Mitleid kennen (Lacan 1997: 258, 267, 273, 286). Dabei ist zwar zu konzedieren, daß auch das Reale seine Affekte, nämlich die Angst und das Genießen, kennt. Während sich aber die Furcht und das Mitleid im Weinen äußern, bleiben die Angst und das Genießen tränenlos.
Wenn bestimmte Gefühle wie das Weinen oder die Scham, zu denen ein bestimmtes Individuum nicht in der Lage ist, von einem anderen Individuum übernommen werden können, so ist der nächste logische Schritt, daß auch das erste Individuum selbst diese Gefühle auf das zweite Individuum übertragen kann. Eben diesen Schritt hat Zizek bereits in seinem Buch Liebe dein Symptom wie dich selbst! vollzogen, wo es hieß, daß nach Lacan "intimste Gefühle wie Mitleid, Schmerz, Kummer und auch das Lachen [...] an andere delegiert werden" könnten (Zizek 1991: 49). Als ein weiteres Beispiel für diese Delegierbarkeit führte Zizek hier den Glauben an, der nichts Inneres sei, sondern in äußeren Handlungsweisen bestehe (ebd.: 51f.). Dabei enthielt Zizeks Hinweis auf die tibetanische Gebetsmühle die These, daß mentale Zustände nicht nur auf ein anderes Subjekt, sondern sogar auf ein Objekt übertragen werden könnten (ebd.: 51f.). Schließlich betonte Zizek, daß diese Delegation von Gefühlen "sogenannte primitive" wie auch "moderne" Gesellschaften übergreife: Was in ersteren bestellte Klageweiber seien, sei in letzteren etwa das "canned laughter" der Fernsehkomödien (ebd.: 50) oder auch, so könnte man anfügen, das öffentliche Trauerritual des Staatsoberhauptes, bei dem dieses seine Funktion der Repräsentation des Volkes auch auf das Trauern ausdehnt, so daß die Bevölkerung hiervon entlastet bleibt und folglich weiterhin ihren Tagesgeschäften nachgehen kann.
Im Kieslowski-Buch aber wendet Zizek das Konzept der delegierten Tränen überraschenderweise nicht auf das stellvertretende Weinen der alten Dienerin in BLAU, sondern auf das spätere Weinen von Julie, Karol und dem Richter an: Während letzteres durchaus mit den "'Tränen aus der Konserve'" gleichzusetzen sei (Zizek 2001: 235), funktioniere ersteres gerade "nicht wie das 'Weinen aus der Konserve'" (ebd.: 218). Noch rätselhafter mutet es an, wenn Zizek dies damit begründet, "daß die alte, treue Dienerin sich der Tiefe von Julies Schmerz vollauf bewußt ist" (ebd.: 218). Denn bereits in Liebe dein Symptom wie dich selbst! hatte Zizek hervorgehoben, daß auch die delegierten Gefühle "ihre Echtheit" nicht "verlieren" (ebd.: 49).
Ähnlich irritierend ist, daß Zizek schon in Liebe dein Symptom wie dich selbst! die Delegation der Gefühle am Chor der antiken Tragödie exemplifiziert, und zwar auch dann, wenn er sich diesmal explizit auf den autoritativen Text der Ethik der Psychoanalyse beruft (Zizek 1991: 49; Lacan 1997: 252). Der Grund für diese Irritation liegt darin, daß jenes Subjekt, welchem der Chor die Gefühle abnehmen soll, niemand anderes als der Zuschauer ist. Dieser ist aber selbst schon ein Außenstehender und empfindet daher selbst schon sekundär, nämlich Mitleid anstelle von Leid. Das wiederum macht es wahrscheinlich, daß auch er weint, und zwar vor allem dann, wenn die leidenden Figuren der Diegese dies nicht tun, wie Tobias Döring in seinem Aufsatz Mimetisches Beweinen für die aktuelle Nummer von Nach dem Film nahegelegt hat (Döring 2002: 6f.). So habe ich selbst etwa, als ich mir Kieslowskis ROT ansah, in jener Szene, in der die Hündin des Richters angefahren wird, vermutlich vor allem deshalb geweint, weil das Tier selbst nicht weinen konnte. Wie in Christoph Deckers Essay Stummes Leid im weepie, ebenfalls in dieser Ausgabe von Nach dem Film enthalten, betont wird, scheint der Rezipient eines Kunstwerks sogar einen Grund zum Weinen zu haben, der bei der Bezeugung von alltäglichem Leid nicht notwendigerweise gegeben ist: Es ist ihm unmöglich, in das Geschehen handelnd einzugreifen und das Leiden so zu lindern (Decker 2002: 4). Und diese Handlungshemmung schließlich könnte die theatralische mit der analytischen Situation teilen: Weint nicht vielleicht auch der Analysand vor allem deshalb, weil er nicht handeln kann?
Insgesamt mutet Zizeks These von der symbolischen Vermitteltheit des Weinens zunächst provokativ, wenn nicht sogar skandalös an. Dabei ist man geneigt, zu fragen, was denn eigentlich skandalöser sei: die Behauptung, daß ich mein Weinen an einen anderen delegieren können soll, oder die Behauptung, daß ich mein Weinen selbst wie einen symbolischen Akt vollziehen soll? Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß immerhin die Auffassung, bei allzu großem Leid sei der Betroffene selbst außerstande zu weinen, so daß stattdessen eher ein unbeteiligter Dritter weine, eine mittlerweile klassische und daher unkontroverse Auffassung ist (Döring 2002: 6f.).
Doch ob die Vermutungen über das Weinen des Zuschauers und des Analysanden nun zutreffen mögen oder nicht - Zizek selbst zieht aus seiner Behauptung, daß wir nur solange weinen, wie wir uns noch in der symbolischen Ordnung befinden, eine andere Schlußfolgerung, nämlich daß Tränen kein Ausdruck des äußersten Unglücks sein können. Ihm zufolge weinen wir vielmehr dann, wenn wir uns wieder auf dem Weg der Besserung befinden, wie es am Ende der DREI FARBEN der Fall ist (Zizek 2001: 234f.), oder sogar dann, so ließe sich wohl ergänzen, wenn wir, wie der stolze Vater in ERSTE LIEBE, geradezu glücklich sind. Denn wie gesagt: "Das Glück hat auch seine Tränen." (ebd.: 235) Mit dem nonverbalen Weinen, so will mir scheinen, verhält es sich für Zizek nicht viel anders als mit dem verbalen Klagen, das bekanntlich in Terrence Malicks Film THE THIN RED LINE (1998) ebenfalls vom schwersten Leid streng geschieden wird: Um die Jungs, belehrt dort Lieutenant Tall den um die Truppe besorgten First Sergeant Welsh, brauche dieser sich erst zu kümmern, wenn sie mit dem Meckern aufhörten.
Dem glücklichen Weinen gegenübergestellt wird in Die Furcht vor echten Tränen das Lachen der Verzweiflung (ebd.: 235). Damit werden Weinen und Lachen, die von Zizek hinsichtlich ihrer Delegierbarkeit noch parallelisiert worden waren, auf der Achse von Glück und Unglück geradezu gegeneinander vertauscht. Zur Veranschaulichung dieser Vertauschung stellt Zizek einen Vergleich zwischen dem Ende von EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE (1988) und demjenigen des entsprechenden sechsten Teils des DEKALOGs an: Die erste Version, in der Magda in ihrer Wohnung weine und dann von Tomek getröstet werde, sei weitaus optimistischer als die zweite, in der sie mit einem erwartungsfrohen Lächeln in das Postamt komme und dann von ihm kalt zurückgewiesen werde. (ebd.: 237f.)
Auch durch die Behauptung, das Weinen sei nicht die schlimmste aller möglichen Erfahrungen, mag sich der eine oder andere zunächst provoziert fühlen, doch wird auch diese These durch alltägliche Beobachtungen bestätigt. Schließlich weiß jeder von uns, daß das Weinen ihm Erleichterung verschafft, wenn es ihm schlecht geht, und daß das Weinen für uns sogar so lustvoll sein kann, daß wir gelegentlich ein Melodram aufsuchen, um es dort gezielt herbeizuführen, während umgekehrt die schwersten, katatonischen Formen der Depression frei von jeder Träne sind.
Tränen wenden sich nicht nur als symbolische Praxis an den Blick des großen Anderen. Als physiologisches Phänomen hängen sie zugleich mit dem Blick des weinenden Subjekts selbst zusammen. Daher ist es reizvoll, die Thematik des Weinens auf jene blicktheoretischen Reflexionen zu beziehen, die Zizek im ersten Oberkapitel seines Kieslowski-Buches unter dem Titel "Das Allgemeine: Wiedersehen mit der Naht" anstellt.
Zizek referiert hier zunächst die klassische suture-Theorie, wie sie von Oudard, Heath, Dayan, Silverman u.a. ausgearbeitet wurde: Die suture diene dazu, die Enunziation, d.h. das Außen, zu einem Teil des Enunziats, d.h. des Innen, werden zu lassen, mithin dazu, erstere zum Verschwinden zu bringen und letzteres in sich abzuschließen. Als primäres Mittel hierzu diene das Schuß-Gegenschuß-Verfahren, welches im Schuß ein subjektives Blickfeld und im Gegenschuß den Inhaber dieses Blicks zeige. Damit werde die externe Differenz von Innen und Außen in eine interne Differenz von innerdiegetischem Subjekt und innerdiegetischem Objekt verwandelt (ähnlich wie oben die externe Differenz von sexuell und asexuell in die interne Differenz von männlich und weiblich transformiert wurde). Die Vernähung folge demnach der Lacanschen Logik der Signifikantenkette, derzufolge ein Signifikant das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiere. (ebd.: 11ff., 40f.)
Wie Zizek selbst anmerkt (ebd.: 317), stützt er sich bei dieser Skizzierung der suture-Theorie auf deren Darstellung durch Dayan, womit er nicht besonders gut beraten war. Denn Dayan gibt, wie schon Bordwell aufgezeigt hat (Bordwell 1985: 110f.), Oudard, den Begründer dieses Theorienansatzes, verzerrt wieder und liefert damit auch eine falsche Beschreibung des Schuß-Gegenschuß-Verfahrens. Dieses fällt nämlich, anders als Dayan nahelegt, mit dem point of view-Verfahren keineswegs zusammen und wird daher auch von Oudard mit diesem nicht ineinsgesetzt. Vielmehr bildet die Blicksubjektivierung lediglich eine von mehreren möglichen Varianten des Schuß-Gegenschuß-Wechsels. Grundsätzlich konstruiert dieser, wie Oudard zurecht festhält, statt eines einzelnen absenten Punktes ein ganzes absentes Feld, in dem sich mehrere Subjekte wie auch Objekte befinden können. Ein wesentlicher Einwand gegen Zizeks Argumentation ergibt sich hieraus jedoch nicht. Denn auch wenn das Schuß-Gegenschuß-Verfahren den außerdiegetischen Kamerablick nicht mit einem innerdiegetischen Figurenblick identifiziert, fällt ihm die Aufgabe zu, den außerdiegetischen Enunziator zum Verschwinden zu bringen.
Abgesehen davon geht es Zizek gar nicht um die Vernähung mittels Schuß und Gegenschuß selbst. Sein eigentlicher Anknüpfungspunkt liegt vielmehr in den Überlegungen der suture-Theoretiker zur Unterlaufung dieses Verfahrens durch Regisseure wie Bresson, Godard oder Hitchcock (Zizek 2001: 13), wobei mir Zizek drei Varianten zu benennen scheint: Erstens könne ein Schuß durch Handkamera, Filter oder ähnliches als allgemein subjektiv markiert werden, ohne im Gegenschuß einem bestimmten Subjekt zugeordnet zu werden (ebd.: 14). Zweitens könne ein Schuß zunächst den Eindruck erwecken, subjektiv zu sein, dann aber - entweder noch in demselben Schuß oder aber im Gegenschuß - als objektiv enthüllt werden (ebd.: 15). Das könne zum einen dadurch bewerkstelligt werden, daß das vermeintliche Blicksubjekt sein eigenes vermeintliches Blickfeld betritt (ebd.: 20). Eine andere Möglichkeit bestehe darin, daß sich bei der vermeintlich subjektiven Perspektive später herausstellt, daß diese unmöglich subjektiv sein kann (ebd.: 15) - eine Möglichkeit, die übrigens schon Barthes am Beispiel von Dreyers VAMPYR (1932) aufgezeigt hat (Barthes 1990: 101). Drittens könne umgekehrt ein Schuß zunächst so wirken, als sei er objektiv, dann aber - erneut entweder noch in demselben Schuß oder aber im Gegenschuß - als subjektiv kenntlich gemacht werden (Zizek 2001: 14f.).
Mit dem interface entwickelt Zizek nun ein weiteres Verfahren, das die Integration des Enunziators in das Enunziat untergräbt. Technisch versteht Zizek unter einem interface eine Vorgehensweise, bei der Schuß und Gegenschuß nicht mehr auf zwei aufeinanderfolgende Einstellungen verteilt, sondern mithilfe einer Spiegelung oder einer Doppelbelichtung in derselben Einstellung vereinigt werden (ebd.: 21f., 26f., 33f., 37). Davon ausgehend entwickelt er auch noch einen abstrakteren Begriff von interface, bei dem in eine Einstellung nicht zwei verschiedene Figuren, sondern zwei verschiedene Versionen - eine direkt-wirkliche und eine indirekt-repräsentationale - derselben Figur integriert werden (ebd.: 38, 39f.).
Man sollte nun zunächst vermuten, daß das interface - als Integration des Gegenschusses in den Schuß - das Außen noch viel spurloser im Innen verschwinden läßt als die suture. Zizek jedoch behauptet das Gegenteil, nämlich daß das interface das Außen exponiere, weil die beiden in ihm zusammengefügten Elemente einander fremd blieben (ebd.: 39). An die Stelle der durch die suture produzierten Signifikantenkette setze das interface die Logik des Phantasmas: In ihm verhielten sich Schuß und Gegenschuß zueinander wie die symbolische Realität und das Reale (ebd.: 21), genauer: wie das gebarrte Subjekt und sein supplementäres, ihm Konsistenz verleihendes Objekt klein a (ebd.: 41f., 58f.), wobei das Paradigma des letzteren durch den Blick gebildet werde (ebd.: 59).
Das Phantasma war aber schon im Zusammenhang mit der Fähigkeit und Unfähigkeit zu trauern thematisch und bildet daher das Bindeglied zwischen dem Sehen und dem Weinen. Um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten, möchte ich aus den zahleichen Kieslowski-Filmen, anhand derer Zizek seinen Begriff des interface zu veranschaulichen versucht, nur den ersten und den letzten Teil der DREI FARBEN-Trilogie herausgreifen:
Der Beginn von BLAU ist für Zizek nicht nur dadurch charakterisiert, daß Julie nicht weint. Außerdem werde Julie hier einem interface ausgesetzt, ja sogar einer besonders verdichteten Form von interface, bei der anstelle eines dritten Objekts - wie eines Spiegels oder einer Glasscheibe - das Blicksubjekt selbst jene Oberfläche bilde, in der sich das Blickobjekt spiegelt: Als der Arzt Julie vom Tod ihres Mannes und ihres Kindes berichte, sehe der Zuschauer nur sein Spiegelbild in dem riesenhaft vergrößerten Auge Julies. (ebd.: 38) Um noch einmal an Ödipus auf Kolonos anzuknüpfen, könnte man sagen, daß Julie ähnlich wie dieser sowohl des Blickes als auch der Fähigkeit zu weinen beraubt ist. Das Ende des Filmes stellt für Zizek eine exakte Umkehrung dieses Anfangs dar: Hier sehe man nach dem Geschlechtsakt von Julie und Olivier sowie den vier phantasmatischen Szenen von Antoine, Julies Mutter, Lucille und Sandrine erneut Julies riesiges Auge, das diesmal jedoch weine (ebd.: 222f., 225, 230). Demgegenüber kann ein interface von Zizek hier nicht ausgemacht werden.
Bei seiner Analyse von ROT beschränkt sich Zizek auf das Ende, an dem der Richter Valentine im Fernsehen sehe und dabei weine. Zugleich aber beschreibt Zizek diese Sequenz als interface und gibt hierfür gleich zwei Begründungen an: Zunächst heißt es, das Fernsehbild zeige nicht die wirkliche Valentine, sondern jenes Werbeplakat mit ihrem Gesicht, das schon vorher im Film zu sehen gewesen sei (ebd.: 37f.). An einer späteren Stelle ist dagegen die Rede davon, daß der Gegenschuß der gesehenen Valentine nicht noch einmal durch einen zweiten Schuß vom sehenden Richter bestätigt werde (ebd.: 236). Beide Begründungen sind jedoch ungenau: Im ersten Fall würde es sich nur dann um ein interface im oben definierten allgemeinen Sinne handeln, wenn der auf dem Werbeplakat repräsentierten Valentine die wirkliche Valentine gegenübergestellt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Im zweiten Fall wäre nur dann ein interface im technischen Sinne gegeben, wenn Schuß und Gegenschuß integriert wären. Tatsächlich aber wird das Schuß-Gegenschuß-Verfahren hier lediglich durch ein Ausbleiben der Rückkehr zum Schuß unterlaufen.
Schwerer noch als diese Kritik wiegen zwei weitere Einwände. Mein erster, logischer Einwand betrifft das widersprüchliche Verhältnis der beiden Filme zueinander: In BLAU fallen das Weinen und das interface auseinander, in ROT dagegen zusammen. Mein zweiter, empirischer Einwand möchte darauf aufmerksam machen, daß Zizek zwei komplementäre Beobachtungsfehler unterlaufen: Zum einen weint Julie in BLAU bereits in solchen Momenten, in denen sie Zizek zufolge aufgrund ihrer symbolischen Mortifizierung eigentlich noch nicht weinen dürfte, nämlich als sie in ihrem Krankenhausbett die Fernsehübertragung von der Beerdigung ihres Mannes und ihres Kindes ansieht und als sie von Lucille im Schwimmbad aufgesucht wird. Zum anderen weint der Richter in ROT nach meiner Beobachtung in jenem Augenblick nicht, in dem er laut Zizek aufgrund seiner symbolischen Wiederauferstehung weinen sollte, nämlich als er Valentines Bild im Fernseher sieht.
Den logischen Einwand läßt der empirische unberührt, da sich der Widerspruch zwischen BLAU und ROT mit ihm einfach nur umkehrt: Jetzt fallen das Weinen und das interface in BLAU zusammen, in ROT dagegen auseinander. Doch scheint es so, als sei dieser Widerspruch weder Zizek noch Kieslowski anzulasten, sondern der Sache selbst geschuldet, nämlich dem Umstand, daß die Beziehung zwischen dem Weinen und dem interface tatsächlich widersprüchlich ist. Denn einerseits stellen beide Phänomene Negationen des Blicks dar: Tränen verschleiern ihn, das interface spaltet ihn vom Auge ab. Deshalb macht es durchaus Sinn, wenn in Kieslowskis Filmen Weinen und interface zusammenkommen. Andererseits geht mit dieser Blicknegation nur beim interface, nicht jedoch beim Weinen eine Dezentrierung des Subjekts einher: Während das Subjekt durch das interface mit dem Realen in Gestalt des Objekts klein a konfrontiert wird, kann es sich im Weinen seiner Stützung durch das Symbolische versichern. Deshalb macht es genauso viel Sinn, wenn in Kieslowskis Filmen Weinen und interface auseinanderfallen.
Vielleicht ließe sich Lieutenant Tall aus Malicks THE THIN RED LINE folgendermaßen variieren: Solange einer seines Blickes noch mächtig ist, braucht man sich um ihn keine ernsthaften Sorgen zu machen.
Barthes, Roland. 1990.
Brecht
Eisenstein
Bordwell, David. 1985. Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press.
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Genre and Excess
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