John Cassavetes‘ überdrehte Filme
John Cassavetes, Sohn griechischer Einwanderer, wurde 1929 in den USA geboren und starb 1989 an einer Leberzhirrose. Angegriffen war seine Leber durch eine Hepatitisinfektion, die er sich in den 70er Jahren zugezogen hatte und seinem fortwährenden Alkoholkonsum. Cassavetes war ein Workaholic. Bis zu seinem Tod hatte er in 12 Filmen Regie geführt, acht dieser Filme hat er selbst geschrieben, inszeniert und geschnitten und er war einer der ersten, der sich von der Abhängigkeit gegenüber den großen Studios und den Gewerkschaften befreite, unabhängig produzierte, zumeist viel eigenes Geld in die Filme investierte und notgedrungen auch seine Filme selbst vertrieb.1Über die realisierten Filmen hinaus schrieb er zig Drehbücher und Theaterstücke; er inszenierte am Theater Stücke, die er selbst geschrieben hatte oder die von befreundeten Theaterautoren. Bekannt ist er dem großen Publikum jedoch vielmehr als der Filmschauspieler, als der er in unzähligen Fernseh- und Kinofilmen anderer Regisseure gearbeitet hat.2 Er haßte Polanskis Art Filme zu machen und die Streitigkeiten zwischen beiden 1968 bei den Dreharbeiten zu ROSEMARIES BABY (USA 1968) sind in die Annalen Hollywoods eingegangen. Es ist grotesk, dass für die meisten Leute Cassavetes Name ausgerechnet mit diesem Film verbunden ist und stärker verbunden ist als mit den Figuren, die er in seinen eigenen Filmen gespielt hat.3 Zwar ehrte man Cassavetes in den USA nach seinem Tod auch innerhalb des Filmestablishments als den Pionier und Freigeist des amerikanischen Erzählkinos und zeigte auf Festivals Retrospektiven seines Werkes. Jedoch ist auch über seinen Tod hinaus sein Werk schlecht zugänglich und die Vorführung eines seiner Filme oder gar eine Retrospektive ist immer ein Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Dass OPENING NIGHT (USA 1977) jetzt hier in recht guter Kopie, in OmU gezeigt werden kann, verdankt sich der Initiative des Peripher-Filmverleihs des fsk-Kinos in Berlin, der das Risiko eingegangen ist, einige Cassavetes Filme in den Verleih zu nehmen. Dass der Film hier auf dem Programm steht, verdankt sich der Initiative von Christine Hanke und Winfried Pauleit, denen zum Thema „Überdreht" Gena Rowlands als Mabel Longhetti in A WOMAN UNDER THE INFLUENCE (USA 1972/73) in den Sinn kam.4 Ich schlug ihnen statt dessen OPENING NIGHT (USA 1977/78) vor, warum wird hoffentlich im Laufe meines Vortrages deutlich.
Cassavetes war Schauspieler lange bevor er Filmemacher wurde. Er wurde Filmemacher, weil er ein so leidenschaftlicher Schauspieler war. Cassavetes bezeichnete sich selbst als professionellen Schauspieler und als Amateur-Filmemacher, was hieß, dass er glücklich war, in guten Filmen zu spielen, aber auch bereit, in schlechten Filmen zu spielen, um es sich leisten zu können, Filme zu machen, die ihn interessierten. Er spielte in Filmen, die er schlecht fand, aber er hätte nie einen Film inszeniert und geschnitten, der ihn nicht interessierte. Zu seinem Interesse hatte er folgendes anzumerken:
„Mich interessiert nur das, was mich interessiert. Dadurch wird der Film zu dem, was er ist. Sobald er professionell wird, ist er spekulativ. Er versucht, Ihnen etwas zu verkaufen. Und Sie sollen es ihm abkaufen. Viele schlechte Filme werden gemacht, weil gewisse Leute ihren Lebensunterhalt damit verdienen wollen. Die guten Dinge sind jene, die einem etwas bedeuten" (nach Carney 2003: 187).
Cassavetes begann Filme zu machen, weil er herausfinden wollte, warum er sich als Film-Schauspieler im Gegensatz zu seiner Arbeit als Theaterschauspieler oder als Schauspieler in den damals üblichen Live-Fernsehfilmen so ‚unfrei' fühlte.
„Bei einer professionellen Produktion wird man beiseite genommen, bekommt das Gesicht gepudert, die Haare gemacht, das Kostüm angezogen, und dann stellen sie dich auf das Set und man weiß nicht, wer man ist und was man da soll. Man möchte den Produzenten sprechen, doch es kommt der Assistent und sagt: ‚Setz dich hin, du bist nicht dran.' Man wird gedemütigt, verliert das Selbstvertrauen, fängt an zu zittern und weiß, man wird grottenschlecht sein, das ist das Ende" (nach Carney 2003: 209).5
Filmemacher zu werden war nicht sein ursprüngliches Ziel, Cassavetes hatte immer Schauspieler sein wollen und er wurde zum Filmemacher, weil er sich in den Filmen anderer nicht so ausdrücken konnte, wie er wollte. Das Lexikon „World Film Directors 1943-1985" zitiert Cassavetes mit folgender Selbstdarstellung: Er habe immer Dinge ausdrücken wollen, die ihm von Wert zu sein schienen und es sei ihm immer mehr um die Probleme gegangen, die aus der Konfrontation mit wirklichen Leuten entstünden, als darum, eine dramatische Struktur herauszuarbeiten oder Charaktere zurechtzubiegen, damit sie in einen Plot passten. Das habe ihn in dieses „lächerliche Geschäft" des Filmemachens gebracht (ebd. 190).
„To be comfortable" ist das Credo des todgeweihten Nachtclubbesitzers Cosmo Vitelli in THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE (USA 1977), er formuliert es als Rede über das Schauspiel in der Garderobe seiner Strip-Tänzerinnen: „Everything takes work. (...) You have to work hard to be comfortable." Für Cassavetes heißt sich wohlfühlen das ganz und gar tun können, was seiner Definition nach einen Schauspieler ausmacht: Mensch sein. Für Cassavetes sind Schauspieler ‚professionelle Menschen'. In den vielen verschiedenen Rollen, die sie spielen ist es ihre höchste Aufgabe, ihre schwierige Aufgabe, zu deren Erfüllung sie zu bringen es des ganzen mal tyrannischen, mal einfühlsamen, mal manipulierenden Engagements des Regisseurs Cassavetes bedarf, sie selbst zu sein, nur sie selbst.6 Was er jungen Filmemachern wie Martin Scorseese riet, war auch sein Anspruch an die Schauspieler und sein grundlegendes künstlerisches Prinzip:
„Sagt, was ihr seid. Nicht, was ihr gern wärt, und auch nicht, was ihr sein müsst. Sagt einfach, was ihr seid. Das ist allemal gut genug" (nach Carney 2003: 201).7
Den überdrehten Filme von Cassavetes liegt diese ganz einfache Maxime zugrunde und gleichzeitig verlangte die Realisierung dieses buddhistisch anmutenden Lebens- und Arbeitsprinzips so viel Arbeit, so viel Anstrengung, so viele Umwege und produzierte so verstörende, irritierende Filme. Cassavetes Maxime, deren Erfüllung Peter Falk als Ehemann in A WOMAN UNDER THE INFLUENCE in einer völlig aus den Fugen geratenen Situation, in der niemand mehr weiß, wer unter wessen Einfluss steht, von seiner Frau fordert – „Just be yourself" -, und die er verbindet mit der Aufforderung an sie, wieder zu ihren merkwürdigen theatralen Gesten zurückzufinden, statt sich so leer und angepasst zu bewegen, erinnert mich an die Formulierung des Philosophen Maurice Merleau-Pontys: „L'Etre est ce qui exige de nous création pour que nous en ayons l'expérience." Das Sein ist das, was von uns schöpferische Tätigkeit verlangt, damit wir es erfahren. Um ganz wir selbst zu sein, sagt Cassavetes, müssen wir spielen, müssen wir arbeiten, müssen wir Formen des Ausdrucks finden.
Diese Selbstfindung und Selbstwerdung, dieser Selbstausdruck aber führt durch Stadien der Auflösung. Der Zusammenbruch ist der erste Schritt auf dem Wege zum Durchbruch. In diesem Sinne sind für Cassavetes alle Menschen verrückt, weil sie nicht mit sich deckungsgleich sind, weil sie sich erarbeiten müssen, wer sie sind. Der Mensch, so formuliert es Helmuth Plessner, muss sich sein Selbst präsentieren. Er
„fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefallen und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewusst.... In diesem Sich-selber-präsent-Sein liegt der Bruch, die ‚Stelle' möglichen Sich-von-sich-Unterscheidens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir die exzentrische genannt haben, anweist"
(Plessner 1948: 416f).
Die exzentrische Position des Menschen (er steht gewissermaßen immer neben sich selbst, ist mit sich selbst nie deckungsgleich), findet bei Cassavetes in dem für seine Filme typischen ‚performativen Exzess' Ausdruck. Ray Carney, der amerikanische Filmemacher, der sich früh und kontinuierlich für Cassavetes Filme interessiert hat und für es eingetreten ist, unterscheidet dessen Filme vom naturalistischen Realismus eben unter diesem Aspekt der Exzentrizität.8 Die naturalistisch-realistische Inszenierung, so Carney, geht von der Funktionsfähigkeit und Autorität allgemeiner, nicht individueller, außerpersönlicher Strukturen des Ausdruck aus. Die realistische Geschichte erzählt oft, wie eine Figur lernt, sich dieser äußeren Form zu bedienen oder sie zu bedienen (und genau diese Geschichte erzählt ja Cassavetes realistischster Film A WOMAN UNDER THE INFLUENCE nicht, aber das realistische Setting des Filmes verführt zu einer solchen Lektüre). Die Grundannahme des Realismus ist, dass bei Aneignung der richtigen Formen oder bei der richtigen Umgestaltung der sozialen und gesellschaftlichen Formen es einem Individuum möglich ist, sich vollständig, klar und zufriedenstellend auszudrücken, sein Inneres im Außen abzubilden. Es gibt hier letztlich keine unüberwindbare Kluft zwischen der Vorstellung und der Handlung, dem Begehren und dem Sprechen. Es gibt nur materielle oder soziale Hindernisse. Ist einmal die richtige Position erreicht, die richtige Positur eingenommen, erscheint der Ausdruck als transparent. Sprachliche Artikulation, Gestik, Mimik und die äußere Erscheinung, alles verschmilzt mit dem Bedeuteten. Cassavetes hingegen hält die Wunde des unauflöslichen Widerstreits zwischen Ideal und Realität, zwischen dem Einzelnen und dem Sozialen, zwischen insistierendem Wunsch und der verrinnenden Zeit offen. Die expressive Wunde ist bei ihm niemals geheilt (Carney 1992:146), denn Cassavetes Figuren haben ein problematisches Selbstverhältnis und sie kämpfen in demselben Maße mit äußeren Zuschreibungen und Rollenmodellen wie mit inneren Repräsentationen ihrer Selbst.9 Für Cassavetes ist das Leben ein Kampf, den man kämpfen muss, auch wenn am Ende der Tod gewinnt. Er urteilt nicht, weil er nicht weiß, wie jeder einzelne diesen Kampf kämpft. Bei Cassavetes, so Carney, ist daher die „Vorstellung, das eigene Ich durch theatrale Mittel zu erweitern, es von den gesellschaftlichen Regeln und Pflichten zu befreien" zentral. (Carney 2003: 538) So arbeitet Cassavetes auf jeder Ebene der Gestaltung (auf der Ebene der Dramaturgie, der Figurenentwicklung, der Dialoge, der Schauspielführung, der Kadrierung, der Lichtführung, des Schnitts) daran, dass der Ausdruck opak bleibt. Seine Figuren werden nicht erklärt und vor allem nicht beurteilt. Sie erklären sich oder andere auch nicht in analytischen Termini, statt dessen formulieren sie stotternd und stolpernd ihre Interessen, sagen ungeschickt, was sie wollen, wünschen, was sie nicht ertragen.
Von dem Beginn der Probenarbeit an war Cassavetes nicht der Autor, der eifersüchtig sein Buch schützte, sondern der neugierig darauf war, was es in anderen auslöste und inwieweit es den Schauspielern ermöglichte, sich auszudrücken und was er durch ihr Spiel Neues erfuhr.10 Er schrieb über das, was „ihn interessierte', das war sein Leben und das seiner Familie, seiner Freunde, seiner Kollegen. In seinem Leben kenne er sich aus, sagte er. Er schrieb für Schauspieler (Profis oder Laien), mit denen er sich auskannte, er schrieb in Hinblick auf sie, für sie, er komponierte das Ensemble und passte Ensemble und Drehbuch einander an. Nicht die Aussage stand im Vordergrund, sondern der Prozess der Exploration, in dessen Zentrum unbestritten das Schauspielerensemble stand.
Das, was sich tatsächlich ereignet in der Erarbeitung eines Filmes, einer Aufführung, auf der Grundlage eines Drehbuches oder eines Theaterstückes, hatte mehr Gewicht, war für Cassavetes wertvoller, als der Plan, die Idee, die Vorstellung des Autors. Cassavetes formulierte es drastisch: er töte Autor, gleich nachdem er das Drehbuch geschrieben habe. Seine Auffassung von Filmen ist rigoros gemeinschaftlich. Seine Tyranie: die mit Härte, Gewalt, mit Manipulation und Schmeichelei eingeforderte Selbständigkeit der SchauspielerInnen. Jede und Jeder muss eine eigene Antwort auf die zu spielenden Szenen finden, muss mit sich selbst auf die Situation reagieren, in der die Rollenfigur sich befindet. Ihn interessierte die Konfrontation von Einzelnen, die sich keinem gemeinsamen Gesetz unterordnen, keinem anderen Gesetz zumindest als dem: dass sie alle sterblich sind und nicht allein sein können, daher verletzlich sind und emotional miteinander verwickelt.
„Geht von eurer Sichtweise aus, zum Wohle eurer Figur. Kämpft für euer Figur. Bleibt ihr treu. Es funktioniert nur, wenn ihr euch persönlich für die Story einsetzt. Die Darsteller müssen sich für die Menschen im Film, für ihre Figur einsetzen. Macht euch keine Gedanken über den Film. Der Film kümmert sich schon um sich. Lasst das meine Sorge sein. Mein Credo lautet: Es gibt nur Individuen. Jeder denkt anders. Der Film hat keine allgemeine Philosophie, er ist das Ergebnis dessen, was die einzelnen Figuren denken. So gesehen entsteht der Film dadurch, dass jeder mehr als Einzelner denn als Mitglied des Teams zum Gelingen beiträgt. Filmemachen heißt für mich, das Innenleben eines Menschen zu erforschen. Ich nehme die innersten Wünsche eines Menschen ernst. Und ich glaube, diese innersten Wünsche, seien sie nun hässlich oder schön, gehören zu jedem von uns und sind wahrscheinlich das Einzige, was überhaupt irgendeinen Wert hat. Ich wollte sie auf die Leinwand bringen, damit wir sie anschauen, empfinden, bedenken und bestaunen können" (Carney 2003: 217).11
In der Folge sieht man die Mühsal des Selbst-Seins: die Ungenauigkeit der Rede, das Theatrale der Gesten, die Erschöpfung der Körper. Der Strom der Gefühle („Love Streams"), die inneren Energien, finden keinen abgeklärten Ausdruck in der Sprache, keinen sicheren Platz in der sozialen Realität. Niemand fasst in Cassavetes Filmen klar und gemessen seine Situation, sein Erleben in Worte und begleitet das mit schlichten Gesten und sinnvollen Handlungen.12
„Wenn der Film hauptsächlich das Produkt des Regisseurs oder Autors ist, hat man nur einen Standpunkt zum Thema. Er ist das Produkt einer einzigen Phantasie. Wenn der Film dagegen von den Darstellern kommt, hat er so viele Facetten, wie es Darsteller gibt; die Handlung wird von allen Seiten beleuchtet – sie ist ein Gemeinschaftsprodukt mehrerer Phantasien. Denken Sie sich einen Film als Kunstwerk auf der Leinwand. Man fängt mit Ideen an, mit etwas eigenem; manchmal fügt ein anderer etwas anderes hinzu und das Ganze verändert sich leicht. Stilistische Einheit nimmt einem Text das Menschliche. Ich finde einfach, dass die Geschichte von vielen Leuten, die vielleicht nicht einmal gut erzählen können, interessanter sind als eine fiktive Erzählung, die nur in der Phantasie eines wortgewandten Einzelnen existiert." (99)
Bei der Exploration dieses Feldes (und Cassavetes Forschungsgebiet könnte man so betiteln: Warum es so schwierig ist, man selbst zu sein) verließ sich Cassavetes in der Zusammenarbeit oft lieber auf neugierige Amateuren denn auf abgebrühte Profis. Cassavetes suchte familiäre, kollektive Verhältnisse beim Dreh, Kooperation, wenig Hierarchie, wechselnde Funktionen und stellte die Bedeutung des Prozesses über das Ergebnis. Die meisten technischen Mitarbeiter der ersten Filme, ob Kamera- oder Tonleute, ob Cutter oder Beleuchter hantierten zum erstenmal mit den Geräten und auch im Bereich Skript, Continuity, Produktionsleitung und Vertrieb wurde ebenso leidenschaftlich wie amateurhaft gearbeitet.13 In der Folge war der Ton für Cassavetes ersten Film SHADOWS (USA 1958) so schlecht aufgenommen und die Skripte des oft improvisierten Drehs so unvollkommen, dass Cassavetes mit dem Film in eine Taubstummenschule gehen musste, um herauszufinden, was seine Schauspieler in den verschiedenen Szenen eigentlich sagten. Er drehte an seinem zweiten unabhängigen Film FACES (USA 1968) acht Monate lang. Er schickte von dem belichteten Material 80.000 Meter ins Kopierwerk, das entspricht 115 Stunden entwickelten Film. So ist es nicht verwunderlich, dass er dann 2-3 Jahre mit den Schnitt des Materials verbrachte. Bei den meisten Cassavetes Produktionen liegt das Drehverhältnis bei 50:1 (normal sind bei Hollywoodproduktionen 8:1 oder 10:1, bei Dokumentarfilmen 20-30:1). Cassavetes überdrehte. Er filmte oft selbst und verschoss ganze Filmmagazine für Dinge, die in Bezug auf einen Plot nebensächlich waren, aber für ihn, mit seiner Aufmerksamkeit für das konkrete Verhalten seiner SchauspielerInnen, im Zentrum stand, auch ohne dass er sofort hätte sagen könne, was ein eingefangener Ausdruck, ein unerwarteter Moment in einer Szene bedeutete.
Zur Zeit von FACES kommentierte Cassavetes seine Art des Filmemachens so:
„Filme sind für mich unwichtig. Menschen sind sehr wichtig. Am Ende gehen alle mit dem Wissen nach Hause, dass es möglich ist. Nicht so sehr, dass der Film gut oder schlecht oder mittelmäßig ist, sondern dass es möglich ist, dass Leute mit Nichts anfangen können und durch ihren Willen und ihre Entschlossenheit aus dem Nichts etwas machen, ohne technisches Know-how, ohne Ausrüstung. Bei dem ganzen Film war kein einziger Techniker dabei. Keiner von uns wusste, wie man eine Kamera bedient. Sie kamen an, studierten die Bedienungsanleitung, wie man den Film einlegt, besorgten sich eine Moviola und sahen sich das Ding an, taten alles Menschenmögliche, wir machten 8 Millionen Fehler, aber es war aufregend und machte Spaß. (...) Das Ganze war mehr als ein Film,; es wurde zu einer Lebensform. Einem Widerstand gegen die Mächte, die die Menschen daran hinderten, sich so auszudrücken, wie sie es wollen. Wir wollten beweisen: ‚So was ist in Amerika möglich. Und ohne Geld. Wir schaffen es.' Wie lange haben wir im Vietnamkrieg gekämpft? Wenn es solange dauert, etwas so Destruktives zu tun, warum können wir uns nicht vier Jahre Zeit lassen, etwas Konstruktives zu tun?"
(Carney 2003: 204f).
Auch bei späteren Arbeiten sparte Cassavetes nie am Filmmaterial und verbrachte dann Monate und Jahre damit, in verschiedenen Schnittfassungen herauszufinden, was der Film nun eigentlich zu sagen hatte, welche Dimensionen in ihm enthalten waren. (Vgl. Carney 2003: 241) Er arbeitete so lange, bis er die Fassung gefunden hatte, die ihm die Angemessenste schien und in den wenigsten Fällen war das die Fassung, die dem Publikum, der Kritik oder den Verleihern ab besten gefiel. Mehr als einmal nahm er Fassungen auseinander, die bei Previews Erfolg hatten und änderte sie ab, mit dem Erfolg, dass die Leute das Kino verärgert und verstört verließen, weil der Film seine Eindeutigkeit verloren hatte. Das gilt für SHADOWS, für HUSBANDS und für OPENING NIGHT. Cassavetes wollte kein analytisches Verstehen, er wollte auch für die Zuschauer in der Rezeption ein Fühlen, dass der Unklarheit und Unübersichtlichkeit im täglichen Leben entsprach. Alles in seinem Filmemachen unterstützt und zielt auf diese Qualität des Unkontrollierten, Unabgeschlossenen, Aus der Kontrolle geratenem, Nichtbegriffenem. Er privilegiert in den meisten Filmen das Fragmentarisch, er erzeugt Bilder, die unterhalb des ganzheitlichen Ausdrucks liegen, er unterläuft im Schnitt die kontrollierte Mimik und Gestik. Kadrierung und Montage komponieren Dynamiken und Intensitäten, flüchtige Ein- und Ausdrücke, einzelne Teile, die aus einem größeren Ganzen ausgewählt zu sein scheinen wie von einer selektiven Wahrnehmung, Momente, der Erschöpfung, der Verwirrung, der noch nicht oder nicht mehr Spiels, expressive Fragemente, die nichts erklären oder behaupten.
Für HUSBANDS drehte Cassavetes 500.000 Meter, das entspricht 280 Stunden belichtetem 35mm Film. Eine erste Fassung des Filmes, von einem auf Komödien spezialisierten Cutter geschnitten, begeisterte die Studiobosse der Columbia so, dass sie den Film für viel Geld kauften. Cassavetes ließ sich allerdings vertraglich das Recht auf den Final Cut zusichern und setzte seinen Willen, was den 'richtigen Schnitt' anging, auch gegen seine Hauptdarsteller, Ben Gazarra und Peter Falk, durch. „Noch während er lächelnd Hände schüttelte und Glückwünsche entgegennahm, flüsterte er Falk zu: „Merk dir die Fassung, du wirst sie nie wieder sehen." (Carney 2003: 320) Während er an der endgültigen Fassung des vermeintlichen Kassenerfolgs Husbands schnitt, rechtfertigte er seine lange Suche:
„HUSBANDS ist keine Komödie. Ich kann Ihnen nicht sagen, was FACES ist, und ich kann Ihnen nicht sagen, was das werden wird. Der Film ist zu mild. Er ist nicht tough genug. Man muß die Qualen der Männer spüren. Der Preis, den sie zahlen, muss höher sein. Der Film kann nicht brutal genug sein" (Carney 2003: 320).
Und an anderer Stelle sagte er:
„HUSBANDS ist about feelings and sentiment, and sentiment is selfish. We try to prove that selfishness is important, a way to stay sensitive" (World Film Directors: 191).
Cassavetes Version von HUSBANDS trieb das Publikum aus den Kinosälen und die Bosse seines Verleihs zur Weißglut. Während der Premiere riefen Leute im Publikum: „Faschist", der Film wurde ausgebuht, Cassavetes als Rassist beschimpft, Leute standen auf, um etwas zu rufen, Gena Rowlands und Seymour Cassel, die hinten im Kino saßen, riefen „Hinsetzen!", es war ein Desaster, das Cassavetes selbst überraschte. Der Verleih verlangte vor dem Kinostart Kürzungen, zu denen Cassavetes nur teilweise bereit war. Eigenmächtig schnitt der Verleih noch 11 strittige Minuten aus den Kopien und brachte sie lustlos in die Kinos. Noch heute sind die 35mm Film- und die 1998 erstellte Videokopien von dieser gekürzten Fassung gezogen. (Vgl. Carney 2003: 337)
Der einzige Cassavetes-Film, der bei der zeitgenössischen amerikanischen Kritik und beim amerikanischen Publikum erfolgreich war, ist A WOMAN UNDER THE INFLUENCE, obwohl Cassavetes auch für diesen Film keinen Verleiher finden konnte und notgedrungen selbst zum Filmverleiher mutierte. Der Film machte Geschichte „als eine der ersten und wichtigsten Erfolgsstorys des Independentfilms und als größter kommerzieller Erfolg in Cassavetes' Laufbahn." (Carney 2003: 475) Mit den Einnahmen konnte Cassavetes einen Großteil der Produktionskosten für die beiden folgenden Filme, THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE und OPENING NIGHT finanzieren, zwei Filme die in den USA an den Kinokassen und bei der Filmkritik völlig floppten und Cassavetes für lange Zeit in dem Geschäft zu einem ‚toten Mann' machten. Nach THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE war Cassavetes „als Spinner abgeschrieben" (Carney 2003: 559) OPENING NIGHT wollte daher auch niemand verleihen. Nach einer von Cassavetes selbst für OPENING NIGHT organisierten Pressevorführung in New York erschien in der einflussreichen Zeitschrift Variety ein Verriss: „Es ist zu bezweifeln, ob mehr als eine Handvoll Kinobesucher an dem Streifen interessiert sind (...) Solche Filme hat er schon öfters gemacht und es schienen sich nicht viele dafür zu interessieren." (zitiert nach Carney 2003:553) Im allgemeinen erhielten Cassavetes Filme meist Kritiker Prädikate wie „zu lang", „zu depressiv", „zu schlampig geschrieben", „zu schlampig gedreht" und überhaupt „pointless".
Cassavetes Filme waren also nie Blockbusters, sie sind Katastrophenfilme von besonderer Art. Die Katastrophe ist im Film die emotionale Krise der Hauptfiguren, deren Hoffnung und Trauer keinen Platz in der bisherigen Organisationsform des Selbst finden. Diese Krise, die immer eine Krise des Selbstbildes ist, ist daher von einem Kontrollverlust über den Ausdruck begleitet, der sich in jedem Fall auf der Ebene der Figur vollzieht, zuweilen auch auf der Ebene des Schauspiels. Diese Desorganisation des Ausdrucks14, die typisch für Cassvetes Filme ist, wurde zumindest in seinem Heimatland katastrophal aufgenommen. Obwohl seine späten Filme und vor allem OPENING NIGHT sich mit dem Thema des Stars, des professionellen Performers, auseinandersetzen, verweigern auch diese Filme den SchauspielerInnen den Starstatus, die schönen Bilder, die spezifische Lichtführung und Bildgestaltung, die es braucht, um das Bild eines Stars zu produzieren.15
In OPENING NIGHT wirkt vieles erhascht, seltsam komponiert, nicht gerahmt, unausbalanciert und verstellt. Selten bekommt man das zu sehen, was man gerne sehen würde. Die Hauptaktion findet im Hintergrund des Bildes statt. Jemand läuft über die Straße und man sieht nur die Füße, jemand blickt und man sieht nur seine Hände. Als säße man im Theater ist oft ein Kopf vor dem Bild und versperrt die Sicht. Immer wieder ist Gena Rowlands wie verloren im Bild, klein vor einer Weißen Wand. Möbel, Gegenstände verstellen den Blick auf ihre Mimik, der Kellner hat mehr Aufmerksamkeit als sein Gast, auch die Barkeeperin und flüchtige Gäste in einer Bar hinterlassen einen starken Eindruck, als wäre ihr Gang, ihr Blick, ihr Tonfall bedeutsamer als der von Myrtle Gordon oder der von Gena Rowlands.
Geradezu programmatisch beginnt OPENING NIGHT mit Stolpern, man weiß nicht ob es ein Stolpern der Schauspielerin Gena Rowlands oder das der Schauspielerin Myrtle Gordon ist, die von Gena Rowlands gespielt wird, die ihrerseits eine Virginia spielt, in einem Stück, das „The Second Woman" heißt. Zu Beginn jedenfalls ein Stolpern, auf dem Weg von der Garderobe zur Bühne. Myrtle Gordon gibt ein paar schnelle Anweisungen an den Requisiteur und nimmt noch einen großen Schluck aus dessen Schnapsflasche. Konzentriert betritt sie die Bühne.. Dort sieht man sie aus weiter Ferne, als säße man im Publikum. Im Stück hat sie 'standing', so sieht es aus, während ihr Weg hinter der Bühne ein einziges Stolpern ist, ein fortschreitender Formverlust, der auch ihre psychische Integrität und Identität betrifft. Sie verlässt die Bühne durch Kulissentüren, fängt sofort an zu stöhnen und zu schluchzen, das Stück nimmt sie mit, greift sie an und mit Schulterklopfen, zureden, Zigaretten, Schnaps und später Kaffee wird sie immer wieder aufgeputsch und in die Arena geschickt, wo geprügelt und geschrien wird, wo man zynisch ist und sich nichts mehr zu sagen hat und alles was von Ehen und Lieben übrigbleibt die Erkenntnis ist, dass man alt geworden ist und die Zeit nicht zurückdrehen kann.
Die Starschauspielerin Myrtle Gordon steht vor der Aufgabe, eine Frau zu spielen, die dem Willen der Drehbuchautorin zufolge im Laufe des Stücks lernt zu akzeptieren, dass sie alt ist und eben nicht mehr jung und begehrenswert. Diese Rolle kann und will die Starschauspielerin nicht so spielen, wie es Regisseur und Drehbuchautorin wollen.Und so stellt sie das Stück der Theaterautorin auf die Probe. Diese Probe sehen wir, im übertragenen, wie im unmittelbaren Wortsinn. Die Truppe probt das Stück, zwischendurch gibt es Voraufführungen, eigentlich so eine Art mehrfacher Generalprobe vor Vorstadtpublikum, bevor es dann die eigentliche 'Opening Night' gibt, in New York am Broadway. 80% des Filmes OPENING NIGHT zeigt Proben, Generalproben, das Leben der Truppe Backstage, das völlig bestimmt ist von der Durchdringung und Vermischung von Arbeits- und Liebesbeziehungen und von den Krisen des Stars Myrtle Gordon. Die Proben und Voraufführungen werden zur Bühne ihrer Krise, das Echo des Theaterstückes in der Psyche der Schauspielerin wird zum eigentlich Stück, die Konfrontation der Person der Schauspielerin mit ihrer Rolle nimmt den Platz der Bühnenfigur ein. Das zu spielende Stück sieht man nie als Ganzes und nur von einigen wiederholt gezeigten Passagen weiß man, dass sie so von der Autorin geschrieben wurden. Ein Großteil des Sätze und Szenenverläufe aber, die während der Proben oder der Aufführungen, auch der OPENING NIGHT auf der Bühne gesagt und gespielt werden, sind eventuell Abweichungen vom Text, Erfindungen der SchauspielerInnen, Improvisationen, die immer von Myrlte Gordon in der Rolle der Virginia ausgehen. Und so ist schließlich die in der OPENING NIGHT entstehende Bühnenfigur Virginia nicht zu unterscheiden von der Filmfigur Myrtle Gordon. Beider Auftritte bestehen im Wesentlichen aus Ausbrüchen und Zusammenbrüchen. Gena Rowland hat dabei die Aufgabe, eine nichtspielende oder schlecht spielende Schauspielerin zu spielen, die in eine psychische Krise gerät, bei der sie die Kontrolle über ihren Ausdruck, über ihr Spiel verliert und dauernd aus der Rolle fällt. Diese Ausdruckkrise der Figur ist Folge ihres Versuches, sich dem Problem, mit dem die Rolle konfrontiert und die von der Schauspielerin bisher verleugnete wurde – wie ist das Altern zu ertragen, das Vergehen der Zeit, die gescheiterte Ehe, der Verlust der Träume und der Verführungsmacht – sich also diesen Problemen zu stellen (als Schauspielerin, die alles mobilisiert, was ihre Persönlichkeit zu bieten hat) und eine Antwort zu finden, die die Schauspielerin Myrtle Gordon in ihrem Anspruch auf Lebendigkeit, auf Liebe, auf Erfolg, auf Hoffnung und Zukunft nicht resignieren lässt.
In ihrer Auseinandersetzung mit dem Stück „The Second Woman" ist Myrtle Gordon nicht nur mit der Autorin, einer Frau des ‚dritten Alters' konfrontiert, sondern auch mit der ‚ersten Frau', die sie selbst einmal war, ihrem eigenen Idealbild, das ihr zuerst begegnet als Fan. Noch erkennen sich Star und Fan ineinander, sind sie einander Spiegelbilder ihres Ideals von Jugend, Schönheit, Ruhm, sexueller Macht, Kontrolle. Doch der Tod wohnt dieser Identifikation mit dem Ideal, diesem selbstbezogenen Narzissmus inne. Das Mädchen stirbt und wird als Tote zur innigsten Vertrauten, zur Verbündeten gegen die Anwürfe der Realität, bevor sie zur gefährlichsten Kontrahentin wird und die Liebschaft mit sich selbst zum Kampf auf Leben und Tod. Was die Schauspielerin am Ende behauptet, ist ein Selbst, dass sich dem tyrannischen Idealbild ebenso entwunden hat wie der Zumutung einer resignierten Senilität, eines Rückzugs in eine wunsch- und traumlose Welt des Tatsächlichen. Was zugrunde geht, ist das Selbstbild des Stars. In seinem Untergang macht es dem Bild der Schauspielerin Platz. Man kann eigentlich alle Cassavetes Filme so beschreiben: Die filmische Figur entsteht im Laufe des Filmes aus dem Untergang eines Stars, sie ist zugleich der Untergang des Idealbildes und das Überleben des Schauspielers. Weil es um einen inneren Konflikt geht, um eine Überwindung der inneren Repräsentationen, gewinnen die Figuren sich im Untergang. Carney beschrieb sie als ‚increasingly missing in action'. Es gibt eine Art Unsichtbarwerden der Figur. Am Ende habe ich zugleich den Eindruck, Gena Rowlands nie richtig zu Gesicht bekommen zu haben und nichts anderes gesehen zu haben, als Gena Rowlands und den Kampf, den ihre Figur führt.
So ist auch die ‚Opening Night' in OPENING NIGHT ein unentscheidbar zwischen Chaos und Schöpfung liegender Abend, das Publikum klatscht begeistert über eine Schauspielerin, die z.T. unterhalb und meistenteils am Rande ihrer Artikulationsfähigkeit spielend, sich einen undefinierbar siegreichen Platz in dem aus den Fugen gegangen Theaterstück erobert. Die größte Begeisterung über die schauspielerische Leistung Myrtle Gordons zeigt die Frau des Regisseurs. Diese Figur ist die Kehrseite der Künstlerin, sie die Ehefrau, die in einer der für mich ergreifendsten Szenen des Filmes sich in ein Sofa fallen lässt und mit den eigentümlichsten Gesten einen Satz unterstreicht, der als Erfahrung, als Menetekel dem Film zugrunde liegt: „I'm dying." Der Star Myrtle Gordon und diese Privatperson sind auf das intimste miteinander verbunden. Die Ehefrau wird von ihrem Mann, dem Regisseur, zur zweiten Besetzung von Myrtle Gordon ernannt, nur pro forma, aber tatsächlich sind sie beide, der Star im Licht und die Zuschauerin im Dunkel zwei Seiten derselben Medaille. Nicht nur ist der Regisseur Liebhaber von beiden: ob nun verheiratet oder nicht, das Leben der ProtagonistInnen ist auf und hinter der Bühne, in Eheleben wie im Künstlerleben von Resignation und Melancholie geprägt, von Verlust, vom Schwinden der Kräfte, von Müdigkeit. „You talk, I sleep. If I had known what a boring man you are" sagt die Ehefrau. In ihren Augen erringt Myrtle Gordon, eigentlich ihre Konkurrentin, für sie, die brave, verzeihende Ehefrau, einen Sieg.
Die ‚Opening Night' des Filmes selbst vollzog sich nicht annähernd so glücklich wie die im Film, da Cassavetes wieder einmal eine gefälligere Fassung, bei der das Publikum begeistert war, geändert hatte, weil er den Film zu oberflächlich fand.16 Cassavetes startete OPENING NIGHT, der später immerhin zwei Oskarnominierungen für die beste Regie und die beste Hauptdarstellerin erhielt, auf eigene Kosten mit großem Presseaufwand in einem New Yorker Kino und fast niemand kam. Damit war der Film für New York tot. Aus Wut über die versnobten New Yorker sperrte Cassavetes den Film für die Stadt und gab ihn ein Jahr später auch nicht zum New Yorker Filmfestival, weil er dort in einer Reihe mit dem Titel: „Lost films" laufen sollte. Cassavetes Kommentar: „Wieso verloren. Wir haben den Film doch." (nach Carney 2003: 560) In Los Angeles lief der Film trotz Oskarnominierung nur sieben Wochen fast ohne Publikum in einem einzigen Kino. Zu Lebzeiten Cassavetes' hatte OPENING NIGHT in den USA keinen Filmverleih. Erst 1991, „dreizehneinhalb Jahre nach dem Abschluß des Films, wagte ein amerikanischer Verleih" den Film für kurze Zeit in ein einziges Kino zu bringen.(Carney 2003: 562) Während dieser 13 Jahre war der Film in den USA kaum mehr zu sehen. 1980 lief OPENING NIGHT in den gesamten USA einmal, am Museum of Modern Art, 1982 einmal, im Museum of Film Arts in Boston, 1983 einmal, in einem Filmseminar von Ray Carney und 1984 einmal, auf dem San Francisco Film Festival. In Europa dagegen hatte Cassavetes von Anfang an mehr Glück, fand er mehr Beachtung, hatte er gute Kritiken und gewann Preise. Gena Rowlands erhielt auf der Berlinale für ihre Darstellung in OPENING NIGHT den silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin. 1981 zeigte das englische Fernsehen den Film in einer Kunstfilmreihe. In den USA dauerte es dagegen noch 20 Jahre, bevor das Fernsehen den Film ausstrahlte.
Diese Rezeptionsgeschichte ist keineswegs einzigartig, sondern beispielhaft für die US-amerikanische Rezeption der Cassavetes-Filme in den 80er Jahren. Die von Cassavetes nach dem Verleihdesaster von OPENING NIGHT erstellt zweite Fassung von THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE, sein eigentlicher Directors Cut, lief zu Lebzeiten Cassavetes' in keinem amerikanischen Kino, Museum oder Festival. Einzig der unermüdliche Ray Carney zeigte sie seinen Filmstudenten in Boston, einmal. Cassavetes habe in den 80er Jahre, so Carney, für die fünf Filme, von denen er allein die Kopien besaß- SHADOWS, FACES, A WOMAN UNDER THE INFLUENCE, THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE und OPENING NIGHT pro Jahr in den USA keine 10 Anfragen gehabt (vgl. Carney 2003: 562).
Denn obwohl Cassavetes sich auf das Unspektakuläre, das Schäbige, Anstrengenden, Misslingende, Verrutschende konzentriert, sind seiner Figuren, gerade weil weder den Figuren, noch den SchauspielerInnen, noch dem Regisseur eine ironische, campe, zynische Haltung zugestanden wird, zumindest nie in letzter Instanz (will sagen: jeder Zyniker wird in einem Cassavetes Film gebrochen) sind seine Figuren und seine Filme alle ‚überdreht'. Sie wirken extrem, ungewöhnlich, ungemütlich, hysterisch, unwahrscheinlich, peinlich, grotesk, unbegreiflich, irrational, disfunktional, weil jede Haltung, jede Pose, jede Maske die sie gegenüber den Anforderungen ihres Lebens einnehmen, demaskiert, demontiert, entleert wird. Tatsächlich ist Camouflage, überdrehtes Auftreten, Überaffirmation in Cassavetes Filmen die Form, in der die Figuren versuchen, ihrem Leben Herr zu werden. Sie werfen sich in Posen von Filmstars, träumen sich in Opern und Ballettwelten und diese Überdrehtheit macht ihren Charme aus und ist ihre Schwäche. Unbarmherzig konfrontiert Cassavetes seine Figuren mit einer Realität, die diese Haltungen bricht, er erschöpft seine Figuren und führt sie oft genug in einen Untergang. Doch ähnelt seine Auffassung von Wahrheit der chinesischen Philosophie: das Wahre ist wahr und sein Gegenteil auch. Die Realität ist so wahr, wie die Flucht aus ihr. Es gibt keine Realität ohne die Notwendigkeit, sich vor ihr zu schützen, keine Identität ohne Schauspiel, kein Familienleben ohne die Flucht vor ihm, kein Wachsen des Selbst ohne des Untergang des Selbstbildes, kein breakthrough ohne breakdown.
Carney, Ray (2003) Cassavetes über Cassavetes, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Eng. Orig.: Cassavetes on Cassavetes, London: Faber&Faber 2001.
Carney, Ray (1994) The films of John Cassavetes, Cambridge: University Press.Combs, Richard (1992) As time goes by, in: Sight and Sound, Vol. 1, issue 12, S.24-25.
Plessner, Helmut (1948) Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Plessner, Helmut/Dux, Günther/Schmidt, Richard W. (Hg.) Gesammelte Schriften Bd. VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.
Plessner, Helmut (1961) Die Frage nach der Conditio humana, in: Dux, Günther/Marquard, Odo/Ströker, Elisabeth (Hg.) Gesammelte Schriften Bd. VIII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Streiter, Anja (1995) Das Unmögliche Leben, Berlin: Vorwerk8.
Streiter, Anja (1998) Liebesstrom Todestrieb. Zeit und Subjekt in den Filmen von John Cassavetes, in: Birkenhauer, Storr, Hg. (1998) Zeitlichkeiten - Zur Realität in den Künsten, Berlin: Vorwerk8. S. 134-144.