Zu Mathieu Kassovitzs Spielfilm LA HAINE (F 1995)
Bilder von brennenden Fahrzeugen suchen im Nachspiel der Protestaktionen der ‚gilets jaunes‘ zahlreiche Medien heim. Doch es sind altbekannte Bilder. Vielleicht lässt sich die Unzufriedenheit der Franzosen mit der sozialen Lage im Lande allgemein, speziell mit ihrem (heute republikanischen, gestern monarchischen) Staatsoberhaupt immer schon an der Dichte der Rauchwolken über Paris bemessen. Während sich die Bereitschaft zu Revolte und Straßenkämpfen bereits mit der Französischen Revolution in die Landeskultur einschrieb, hat sich das Anzünden von Autos besonders im Laufe der letzten 25 Jahre etabliert und ausgebreitet: Schon am Abend von Nicolas Sarkozys Wahlsieg 2007 ging (Le Monde zufolge) eine Rekordzahl von 730 Fahrzeugen in Rauch auf, zuletzt wiederholte sich das unter François Hollande im Zuge der ‚Affaire Théo‘ im Februar 2017.
Mathieu Kassovitzs Spielfilm LA HAINE (F 1995), auf Deutsch HASS, führt uns zurück in seine Entstehungszeit Mitte der 1990er Jahre, als in Gewalt mündende Unruhen und brennende Autos lediglich eine Erscheinung der ‚banlieues urbaines‘ waren, jener vernachlässigten Vororte französischer Großstädte, in denen sich die ‚HLM‘ (Habitations à Loyer Modéré = Wohnsitze mit moderater Miete) zu gesichtslosen Hochhäusern auftürmen. Letztere sind das französische Äquivalent der ‚Projects‘ in den US-Städten, das Ergebnis einer Wohnungsbaupolitik, die es für gut hielt, Sozialbauten möglichst konzentriert in der Form von Hochhäusern an urbanen Randgebieten zu errichten. Außer Acht gelassen wurde nur, dass die entsprechenden Ballungsräume einer Bevölkerung aus niedrigsten Einkommensklassen soziale Brennpunkte hervorbringt, an denen eine Vorherrschaft von Armut und Arbeitslosigkeit verstärkt in krimineller Aktivität mündet. Nachdem solche Siedlungen Jahrzehnte lang sich selbst überlassen wurden, lehnte sich eine im Stich gelassene und frustrierte Vorstadtjugend ab den Neunzigern gegen die Polizeigewalt auf, der sie täglich ausgesetzt war. Dabei war es meistens das eigene Viertel, das verwüstet wurde.
Das jugendliche Trio, um das sich LA HAINE dreht, stammt aus eben so einer ‚cité‘ von Paris. Der Film setzt ein mit einer Erzählung aus dem Off, welche Western-Aficionados von Steve McQueen aus THE MAGNIFICENT SEVEN (USA 1960) kennen dürften: Die Geschichte eines Mannes, der vom Dach eines Gebäudes fällt. Bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeizieht, ruft er: „So far so good.“ Hier wird ausdrücklich ergänzt, auf den Fall käme es jedoch nicht an, sondern auf die Landung. Eine hoffnungslose Selbstbeschreibung des Films und Gesellschaftsallegorie zugleich; dazu ein Bild der Erdkugel, auf die in slow-motion ein Molotowcocktail zufliegt. Mit dem Aufprall wird das Bild von Flammen konsumiert. Schnitt zu einem Auto, das ebenfalls niedergebrannt wird. Es handelt sich um die erste von vielen Dokumentaraufnahmen verschiedener Proteste und Straßenschlachten mit der Polizei, die den Vorspann ergeben. Begleitet werden die Bilder durch den bedächtigen Reggae-Beat von Bob Marleys Burnin' and Lootin', der neben Melancholie auch eine befreiende Entladung vermittelt („Burnin' all illusion tonight...“). Schließlich die fiktionale Erklärung einer TV-Nachrichtensprecherin: Die Krawallnacht war auf den „Ausrutscher“ eines Polizisten gefolgt, der einen Jugendlichen in Polizeigewahrsam dermaßen schwer verletzt hat, dass dieser nun im Krankenhaus um sein Leben ringt. Der Fernseher geht aus, der Film beginnt – wie er auch enden wird: Ein langsamer Vorwärtszoom auf Saïd (Saïd Taghmaoui), der seine Augen zukneift, als würde er ihnen nicht trauen oder nicht mitansehen können, was sich vor ihm abspielt. Da bewachen etwa zwei Dutzend gelangweilte CRS (Frankreichs berüchtigte Anti-Krawall-Einsatzkraft) das Polizeirevier. Es ist der Morgen nach den Aufständen, in der Ferne hallt noch Marleys Wehgesang nach.
In der Ruhe nach dem Sturm sucht Saïd seine beiden Kumpels auf. Erst Vinz (Vincent Cassel), ein Großmaul, das sich für den Rächer der Vorstadtjugend hält, Travis-Bickle-Allüren aufsetzt und entsprechend hohe Töne spuckt. Danach Hubert (Hubert Koundé), der in seiner verwüsteten Boxhalle einsam den Frust an einem Sandsack auslässt. Hubert ist das Umkehrbild von Vinz, nachdenklich und in seinen Aussagen stets überlegt. Er verkauft nebenher Haschisch, um dem Familienhaushalt über die Runden zu helfen, obwohl er selbst nicht mehr raucht. Zumindest glaubte er das, doch inmitten der verkohlten Überreste seines hart erkämpften Traums wandert der Joint dann doch wieder zu ihm. Zwischen den beiden Gegenpolen Vinz und Hubert fungiert Saïd als Mediator, der mal dem Einen, mal dem Anderen zur Seite steht und ständig versucht, mit einem schnellen Spruch oder Scherz die Stimmung aufzuhellen. Dennoch nimmt er am durchgehenden verbalen Schlagabtausch teil, der den Grundton ihrer Kommunikation ausmacht.
Trotz der Rauheit des Umgangs wohnt ihrer Jugendsprache – mit ihren Wortspielen und -umkehrungen – eine Sprachgewandtheit inne, die eine ganz eigene Lyrik entfaltet. Obwohl die Drei sich ununterbrochen beleidigen, ist zwischen ihnen eine Art brüderliches Füreinanderdasein selbstverständlich, das teils aus Solidarität, teils aus Alternativlosigkeit herrührt. Einer von ihnen ist arabisch, der andere jüdisch, der letzte schwarz; daran erinnern sie sich in ihrer Dauerstreiterei immer wieder. Dass sie alle drei zudem Franzosen sind, wahrscheinlich sogar vor Ort geboren, scheint niemand richtig wahrhaben zu wollen. Gemeinsam lassen sie sich durch einen Tag treiben, der durch wiederholte und unterschiedlichste Begegnungen mit der Polizei markiert ist. Zunächst schlendern sie durch ihre verwüstete Cité, an den verbrannten Autowracks und dem damit einhergehenden Stillstand vorbei. Später geht es nach Paris(-Innenstadt), wo es, nur eine S-Bahnfahrt von ihrem Zuhause entfernt, zu einem irren Kulturclash kommt, der die Unterschiede zwischen den Lebenswelten von 2 Millionen Parisern und den fast 9 Millionen Bewohnern ihrer Vorstädte nochmals hervorhebt. Die systematische geographische Marginalisierung von Minoritäten in vielen dieser urbanen Randgebieten hat – mit den entsprechenden ‚(neighbour)hoods‘ der USA vergleichbare – sozio-kulturelle Entwicklungen mit sich gebracht. So ist es kein Wunder, dass gerade dort eine französische HipHop-Kultur entstehen sollte.
Letztere äußert sich in LA HAINE weniger über Rapgesang als über ‚breakdance‘ und ‚turntablism‘. Es sind Szenen, in denen Jugendliche aus ihrem Milieu Kraft schöpfen, um anschließend gesellschaftliche und körperliche Grenzen zu transzendieren. So wenn Hubert die Breakdancer beobachtet, deren akrobatische Bewegungsabläufe keinem Newtonschen Gravitationsgesetz zu unterliegen scheinen. Für einen Moment wird alles andere ausgeblendet, das Tempo verlangsamt sich, es gibt nur noch die Musik und die frei umherwirbelnden Tänzerkörper. Sie geben sich einer endlosen Drehbewegung hin, die auch dann noch andauert, wenn alle Beobachter längst verschwunden sind und selbst die Musik verklungen ist. Ähnlich bewegend wirkt jene Sequenz, in der DJ Cut Killer von seinem Hochhaus-Zimmerfenster die Nachbarschaft beschallt. Mit blitzschnellem Fingerspiel lässt er auf zwei Plattenspielern Welten kollidieren, auch harmonieren. Zunächst alterniert er zwischen Sound of da Police vom New Yorker HipHop-Aktivist KRS-One und dem Song Police der französischen Rapgruppe Suprême NTM, wozu sich dann noch Édith Piafs schmerzerfülltes Non, je ne regrette rien addiert. Zeitgleich verschmilzt Neues mit Altem, Gegenkultur mit Kanon, US-amerikanische mit französischer Musik und unterschiedliche Rapschulen miteinander. Eine irre Melange findet statt, wenn KRS-Ones wiederholter Ausruf „that's tha sound of tha police“ im frankophonen Ohr zu „assassin de la police“ ( = Mörder der Polizei) kondensiert und dabei kulturelle Elemente in Einklang geraten, die zu oft in ein gegensätzliches Verhältnis gesetzt werden. Gerade KRS-Ones Credo, Menschen mit HipHop-Musik aufzurichten und zu erheben (‚uplift‘ und ‚elevate‘) scheint sich hier wortwörtlich auf die Kamera zu übertragen: In einer außergewöhnlichen Plansequenz lässt sie sich von der Musik tragen, wenn sie frei durch die Hinterhöfe und Häuserschluchten der Cité schwebt. Die Musik schafft einen uneingeschränkten Möglichkeitsraum. So ist es kein Zufall, dass gerade in diesem Moment Vinz meint, zwischen den Häuserblocks eine Kuh entlang spazieren zu sehen – was die Kamera bereitwillig bestätigt.
Diese HipHop-Sequenzen bergen nur einige der vielen bemerkenswerten Bildmomente von LA HAINE, in denen mit Crash-Zooms, Vertigo-Effects, Composite-Shots, Hervorhebungen, Überwachungsbildern u.v.m. zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten der Bewegtfotografie ausgetestet werden. Andererseits versteht es der wiederholte Kassovitz-Kollaborateur Pierre Aïm, die Kameraarbeit an entscheidenden Momenten zurückzunehmen und in langen Einstellungen bei minimaler Bewegung den Schwarz-weiß-Bildern ausreichend Raum zu geben, auf dass sie ihr Gewicht entfalten können. An der differenzierten Bildgestaltung lässt sich eine Liebe zum Kino und seinen Ausdrucksmöglichkeiten ablesen, die sich auch in diversen Filmreferenzen äußert. So wird nicht zuletzt auf das (für Rapmusik so einflussreiche) Gangster-Genre verwiesen, an prominenter Stelle mit dem für SCARFACE (USA 1932 & 1983) entscheidenden Schriftzug: „Le Monde est à vous“ / „the world is yours“. Dieser taucht plötzlich zusammen mit dem Anfangsbild der Erdkugel auf einem Werbeplakat auf. Der Spruch scheint Saïd jedoch nicht zu gefallen, wenn er mithilfe einer Sprühdose den ersten Buchstaben des ‚vous‘ durch ein ‚n‘ ersetzt. Er verwandelt die Welt nicht nur in „unsere“, sondern lanciert einen Appell, sich nicht mit dem Angebot kapitalistischer Fassadenversprechen zufrieden zu geben und sich stattdessen über andere Wege die Welt anzueignen. Eben das versucht das Trio für die Dauer des knappen Tags, an dem die Handlung sich abspielt und während der gut 90 Minuten, in denen es die Filmbilder zusammen mit unserer Aufmerksamkeit für sich beansprucht.
Wie es LA HAINE gelingt, in solch kurzer Zeit so viele Facetten unserer Gesellschaft bedeutsam zu beleuchten, lässt sich nur schwer wiedergeben. Ebenfalls schwer begreiflich ist die Zeitlosigkeit dieses Films, dessen Bilder von Revolte und Polizeigewalt mehr als 25 Jahre nach der ‚Affaire Makomé M'Bowolé‘ (die zum Zündstoff für das Drehbuch wurde) an Aktualität nichts eingebüßt haben. Die ‚Affaire Théo‘ aus dem vergangenen Jahr belegt, dass sich seither an der Gewaltbereitschaft der Ordnungshüter in den Pariser Banlieues nicht viel geändert hat. Verändert hat sich vor allem, dass – genau wie HipHop – gewaltsame Proteste und brennende Autos längst nicht mehr nur Erscheinungen der marginalisierten Vorstädte sind. Wie in LA HAINE gezeigt wird, eröffnen Bilder von Gewalt nur vermeintlich einen Weg, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Interessen systemisch Marginalisierter zu lenken. Die wachsende Möglichkeit, das eigene Bild in den entsprechenden Kanälen reproduziert zu sehen, führt folglich nicht dazu, einer gesellschaftlichen Anonymität zu entrinnen – die Bilderflut der Medienanstalten dient im Horizont von LA HAINE vielmehr dazu, ihre innere Spannung anzufachen.
N.N. (2010) „En une décennie, le phénomène des voitures brûlées s'est étendu et banalisé“, in: LeMonde.fr, o.S.. Link: https://www.lemonde.fr/societe/article/2010/01/05/en-une-decennie-le-phenomene-des-voitures-brulees-s-est-etendu-et-banalise_1287638_3224.html