Zur Konferenz "Ereignis – Anspruch und Missbrauch einer fundamentalen Kategorie der Zeiterfahrung", J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main, 25.–28. April 2002.
Ein Mann und eine Frau sitzen an einem Tisch einander gegenüber. Abwechselnd sprechen sie ein paar Worte. Es scheint, als säßen sie schon länger, hätten inzwischen Kaffee getrunken und ein paar Zigaretten geraucht. Von Zeit zu Zeit wird die Situation unterbrochen (der Gang zur Toilette) und nach ein paar Minuten wieder aufgenommen. Eigentlich ein alltägliches Bild. In der Performance P.I.P. (P=Performance=Picture) von Kattrin Deufert und Thomas Plischke ('Frankfurter Küche') geht ein sichtbarer Riss durch ein solches, mit entsprechenden Zeichen von Normalität ausgestattetes Bild. Beide Performer, deren Aktion von zwei DV-Kameras aufgezeichnet wird, agieren Rücken an Rücken an separaten Tischen. Erst die spiegelverkehrte Projektion bringt sie als 'Paar an einem Tisch' zusammen. Wie im Kino, wo die Einzelbilder des Films in der Tat nur in einer bestimmten Anordnung von Apparatur, Leinwand und Zuschauer zur Anschauung kommen, erweist sich das Bild des Paars am Tisch als Effekt einer spezifischen Anordnung im Raum. Diese hinterlässt in der Mittelachse des Bildes, wo beide Projektionen sich überlappen, eine Spur. Konstitutiv für die Wahrnehmung des Paars am Tisch und gleichwohl als Spur der Differenz, erscheint die Mittelachse des Bildes wie ein Riss, der die Geschlechter voneinander trennt. Das Paar ist weder Einheit noch Differenz. Es gibt sich fortwährend als Effekt seiner Anordnung zu erkennen.
In der Philosophie, in jüngerer Zeit insbesondere der Französischen-, hat die Kategorie "Ereignis" unterschiedliche Denkweisen inspiriert. Das Frankfurter Graduiertenkolleg "Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung" präsentierte in der Konzeption von Kattrin Deufert und Nikolaus Müller-Schöll Positionen zum Ereignis aus Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft sowie solche aus dem Bereich der Performance. Wer sowohl die Vorträge, als auch die Performances wahrnehmen wollte, absolvierte dreieinhalb Tage und bis in die Nacht volles Programm und bewegte sich durch die Stadt, unterwegs zwischen I.G. Farben-Haus, Künstlerhaus Moussonturm und schauspielfrankfurt. Die Performance der 'Frankfurter Küche', die angesiedelt zwischen DV-Kamera, Kaffeetasse und Betrachtersubjekt öffentlich zum Ereignis philosophierte, hatte den Vorträgen der Konferenz eines voraus: den routinierten Umgang mit Bildern. Bis auf wenige Ausnahmen (Burkhardt Lindner (Frankfurt/M.) reichte zum Einstieg in seinen Vortrag die Kopie eines Bildes herum, auf dem der aufsteigende Rauch aus den Türmen des WTC Konturen einer Teufelsfratze angenommen hat und Timo Skrandies (Frankfurt/M.) zeigte Ausschnitte u.a. aus dem Film THE MATRIX) waren Bilder, die in der Philosophie traditionell ein Schattendasein führen, auch hier nahezu ausschließlich auf Seiten der Performances präsent.
Der Titel Promethie 1.1. der Performance von Eva Holoch und Nicola Nord ist Programm und verweist auf einen männlichen Namen (Prometheus), der die weibliche Endung 'ie' (wie bei Iphigenie) trägt. Der als "Männermythos" geläufige Prometheus-Stoff wurde um weibliche Stimmen erweitert und verstärkt, die sich unterschiedlich, teilweise auch in post-feministischen Sprechweisen, artikulierten. Bewegte man sich schlendernd durch den Raum, in dem Zuschauer und Performance agierten, ergaben sich fortwährend neue Perspektiven auf das Geschehen. Unter die Elemente der Performance (Videobilder, Aktion im Raum, Sprechweisen, Blickachsen), die per Zufallsprinzip in der Wahrnehmung des Betrachters zusammenkamen, ließen sich Erinnerungsbilder an vergangene Prometheus-Abende im Theater mischen, die selbst bereits Versionen des Mythos sind.
Im Rahmen der Vorträge versuchte Martin Seel (Gießen) eine phänomenologische Annäherung an das Ereignis als "Aufstand der Gegenwart im Fluß der historischen Zeit". Plastisch und für jeden einprägsam unterschied er "die regennasse Strasse" die kein Ereignis sei (da sie keinen kollektiven Einschnitt markiert), vom "überraschenden Sieg Bayern Münchens" in der deutschen Fußballmeisterschaft. In Ergänzung zu Seel, aber unter Verzicht auf den Gestus des auktorialen Wissenschaftlers, der das Unbeschreibliche von einem neutralen Standpunkt aus beobachtet und kategorisiert, begab sich Christiaan L. Hart Nibbrig (Lausanne) in die Lektüre literarischer Texte u.a. von Charles Dickens, Robert Musil, Franz Kafka, Marcel Proust, Virginia Woolf. Der Kutschenunfall in der Recherche, das Eisenbahnunglück im Mann ohne Eigenschaften wurden – in Entsprechung mit dem Unfall bei Kafka - als Unfall des Erzählens und mithin als Ereignis in der Lektüre lokalisiert. Das vergebliche Umkreisen und schließlich das Verfehlen des Ereignisses gerieten aus dieser Perspektive selbst zur Grundlage seiner Darstellbarkeit.
Als "Sprechereignis" stellte Daniel Heller-Roazen (Princeton) die "Glossolalie", das Reden schlechthin, vor, welches da beginnt, "wo die kanonischen Bestimmungen der Sprache aufhören" und sich das Reden von Subjekt und Bedeutung ablöst. Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt) konstatierte eine Verdrängung des "Komische(n) als Ereignis" bei Lessing, Marivaux und Molière anhand der Geschichte seiner Erscheinungen und Enteignungen. Auf der Schnittstelle zwischen Text und Bild schließlich, bewegte sich Judith Kasper (Paris) in ihrer Lektüre von George Perecs W ou le souvenir d’enfance. Um der Un-Darstellbarkeit des Traumas der eigenen Biografie entgegenzuwirken, schlägt Perec den Weg des Schreibens ein. Anstelle des Traumas, das sich der sprachlichen Darstellung entzieht, übernimmt ein einzelner Buchstabe eine prominente Rolle. Der bedeutungsleere Buchstabe "W" wird in Perecs Text zum Zeichen. Er insistiert, indem er zur Antwort herausfordert (man will sich einen Reim darauf machen) und entzieht sich zugleich. "Doch die interpretatorische Ernennung des Buchstabens zum Symbol hieße, gerade den Reim (...), diesen Rest zu verfehlen, die Literatur an ihrem Thema zu "heilen" oder auch: zu anästhesieren." Um zur Erscheinung zu kommen, nimmt das Ereignis bei Perec den Umweg über die (bildgewordene) Schrift und appelliert gleichwohl an des Lesers Lust am Text.
Zurück zum Paar am Tisch. Die Lust am Ereignis (sei es als Denksportaufgabe, Beschreibungsmodus oder Kategorie) kommt für den Betrachter der eingangs beschriebenen Performance besonders dann zum Tragen, wenn er beim Durchschreiten des Raums selbst ins Bild gerät, in dessen Mittelachse er überraschend verschwindet, und einen Moment später am gegenüberliegenden Bildrand, da wo er sich spürbar überhaupt nicht befindet, wieder auftaucht. Dieser Moment – entsprechend dem Spiegelstadium das Lacan beschrieb – ist ein Moment der kleinen Frohlockung, ein Moment des lustvollen Selbsterkennens im Falscherkennen.