Review zu High Definition. Medienphilosophisches Image Processing von Elisa Linseisen
Elisa Linseisen legt mit High Definition. Medienphilosophisches Image Processing ein grundlegendes Werk zu digitalen, hochauflösenden, audio/visuellen Bildern und deren Verhältnis zur Wirklichkeit vor. Die Fragestellung geht hierbei über theoretische Bezugsrahmen wie das Post/Cinema, aber auch Debatten zur Manipulationsfähigkeit des Digitalen, die häufig mit dem Schlagwort ‚fake‘ versehen werden, deutlich hinaus. Auf den Versuch, einem so umfassenden, komplexen Buch mit einem inhaltlichen Überblick zu begegnen, möchte ich zugunsten einer Annäherung an die von mir als zentral ausgemachten Begriffe HD, Image Processing und Wirklichkeit verzichten.
Der Film HAVARIE (Philip Scheffner 2016), dem Teile eines Kapitels gewidmet sind, lässt sich beispielhaft für das Interesse Linseisens am Verhältnis von HD und Wirklichkeit sowie dem medienkritischen Potenzial von HD heranziehen. Die Bilder eines kleinen, nur als schwarze Pixel vor blauem Hintergrund erkennbaren Bootes auf dem Mittelmeer, die in HAVARIE ungefähr im Sekundentakt wechseln, verdanken ihre eindringliche visuelle Qualität der Dehnung eines nur wenige Minuten langen YouTube-Clips auf ungefähr 90 Filmminuten. Die den Bildern zugeschriebene Unschärfe, die Farbfehler und insbesondere die sichtbaren Pixel, die wie ein Schatten des Bootes erscheinen, legen nahe, den Film mit Hito Steyerls Konzept der Poor Images zusammenzubringen – und erscheinen als Gegenteil der Hochglanzbilder, die gemeinhin mit High Definition assoziiert werden. Elisa Linseisen argumentiert hingegen überzeugend, dass „HD und Poor Image […] vielmehr Existenzweisen von Digitalbildlichkeit dar[stellen], die ineinander übergehen können“ (S. 195). So wird der YouTube-Clip, der HAVARIE zugrunde liegt, aus der prekären Umgebung des Internets gelöst, in der Nachbearbeitung vergrößert, mit Pixeln angereichert und auf ein hochauflösendes Kino-Format gebracht. Der Film ist somit kein Poor Image mehr. Die sichtbaren Pixel lassen sich mit Linseisen vielmehr als ästhetische verstehen, die sie von technischen Pixeln unterscheidet. Diese hochaufgelösten, ästhetischen Pixel fungieren als „Reflexion über [die] Existenzform“ (S. 195) von Poor Images und verdeutlichen die „Veranlagung zum Poor Image“ (S. 197), die pixelbasierte Digitalbilder stets in sich tragen. Die Überführung der Poor Images in HD – sowie die Möglichkeit zur Umkehr dessen – zeugt von den Potentialen der Hochauflösung, die Linseisen in den Fokus nimmt. Darüber hinaus erfolgen die post/produktiven Eingriffe in das digitale Material in HAVARIE nicht etwa im Sinne einer Realitäts-manipulierenden Auffassung des Digitalen, sondern dienen vielmehr der Freilegung von Wirklichkeitsschichten und verdeutlichen damit ein weiteres Interesse der Autorin an HD.
Elisa Linseisen macht in ihrer Monografie das Angebot, mit HD zu denken. In ihrer vielschichtigen Diskussion verwebt sie Ästhetiken, Ontologien, Technologien, Prozesse und Medien. High Definition meint nicht etwa technische Spezifikation von Laptop- oder Fernseh-Bildschirmen, digitalen Spiegelreflex-Kameras oder Kino-Standards, die für eine bestimmte bessere oder höhere Qualität stehen könnten – und die selbst wiederum historisch sowie im Kontext der medialen Umgebungen gedacht werden müsste. Wenn Linseisen HD als „medial unspezifisch“ ausweist, zielt sie damit „nicht auf ein bestimmtes medientechnisches Dispositiv […] oder eine medienessenzialistische Klassifikation“ (S. 23). Statt HD als festgeschriebene Qualität zu fassen, fragt die Autorin nach dem Potenzial sich in „unterschiedliche (digitale) Kontexte einzufügen“ (S. 26). Entsprechend bestimmt sie HD als dynamisch, modifizierbar und prozessual. So geht Linseisen von der Auflösung aus, die sie auf die Skalierbarkeit, die „Potentiale der Hochauflösung […] – der Bilder und der Wirklichkeit“ (S. 25), bringt. HD steht somit für das „vergrößer- und verkleinerbare Bild“ (S. 25; Herv. i.O.), das nicht abgeschlossen vorliegt, sondern inhärent prozessual und prozessierbar ist. Medienphilosophisches Image Processing geht als ein „ästhetisches und politisches Instrument“ (S. 18) entsprechend über die Medientechnik der digitalen Bildbearbeitung hinaus und eröffnet einen „Denkraum medienphilosophischer Operationen“ (S. 11). Linseisen interessiert sich für Prozesse hochauflösender Digitalbildlichkeit, die stets in Relation zur Wirklichkeit zu denken sind. So werden post/produktive Schritte nicht als Manipulation gewertet, sondern dienen der Aushandlung des Verhältnisses zwischen HD und Wirklichkeit (S. 81): Die nachträglichen Eingriffe sind Wesensbestandteile einer Wirklichkeit in HD. Hochauflösende, prozessierte audio/visuelle Digitalbilder sind somit nicht einfache Repräsentationen, sondern „selbst Praktiken und Prozesse der Wirklichkeitserzeugung“ (S. 18). Die Frage, die im Zentrum des Buchs steht, zielt daher auf nichts Geringeres als das grundlegende Verhältnis von HD und Wirklichkeit. So macht Linseisen von vornherein klar: „HD geht es um die Wirklichkeit.“ (S. 11) Diese ist jedoch eine zutiefst medial durchdrungene, was die Autorin auf den Begriff der post/digitalen Medien/Immanenz bringt, in der kein Denken außerhalb des Medialen möglich ist und eine kritische Positionierung nur innerhalb der Medien, über Praktiken des medienphilosophischen Image Processing von HD eingenommen werden kann.
Den digitalen Bildpraktiken des medienphilosophischen Image Processing ist entsprechend jeweils ein Kapitel gewidmet: Post/Produzieren, Um/Formatieren, Interpolieren und Zoomen. Diese werden mit medientheoretischen Diskursen der ‚post/-ismen‘ verschränkt. In den einzelnen Kapiteln wird das Post/Digitale, Post/Fotografische, Post/Fernsehen, Post/Video und schließlich Post/Cinema befragt. Die Kapitel orientieren sich zudem an Beispielen aus Videokunst, Fotografie, Serien, Spiel- und Dokumentarfilmen bis hin zu Galaxiefotografien der NASA und verweisen auf die Bandbreite hochauflösender audio/visueller Digitalbilder, an denen die Argumentation entwickelt wird. Der argumentative Zoom zwischen einzelnen Pixeln und ganzen Galaxien erweist sich selbst als relationale, prozessuale Denkbewegung.
Das prozesshafte, bewegliche, in bester Weise unabgeschlossene Denken der Autorin wird durch die Verwendung von Schrägstrichen in der Entwicklung von Begriffen und Konzepten markiert, die medienphilosophisches Image Processing zudem in das Formal/Sprachliche übertragen. Die Schrägstriche stehen für Denkprozesse über das Verhältnis von HD und Wirklichkeit, Theorie und Gegenstand sowie Denken und Sprache selbst. So verdeutlichen die Schrägstriche auch sprachlich das Befragen von Verhältnissen, beispielsweise von „Post/Cinema und/oder/auch Cinema“ (S. 53), wie es in Diskursen des Post/Cinema bereits angelegt ist, wenn die Bedeutung des Präfix über ein zeitliches ‚nach‘ von Cinema hinausgeht. Linseisen vereint ästhetische, epistemische, medien- wie technikphilosophischen Fragen zum Verhältnis von HD und Wirklichkeit und entwickelt ihre Begriffe, indem sie diese in ihr eigenes HD-Denken einfügt und für die Fragen des medienphilosophischen Image Processing um- bzw. neu denkt. Die Theorien und Begriffe werden dazu konsequent in die Sprache und Schreibweise der Autorin überführt. Obwohl sich fragen lässt, wie anschlussfähig eine solcherart eigenständige Sprache in den eher schwerfälligen Strukturen der Academia ist, zeugt die Bildung von Begriffen von einem geradezu Deleuz'schen philosophischen Unterfangen und nimmt teilweise dringend notwendige Aktualisierungen für Fragen des Digitalen vor. Dennoch dienen die Begriffsbildungen und Konzepte nicht als Entwurf einer Theorie digitaler hochauflösender audio/visueller Bilder – einem Anspruch, der ohnehin wenig zeitgemäß und dem Gegenstand nicht angemessen scheint –, sondern als Aufforderung an die Leser*innen, das Angebot mit HD zu denken, anzunehmen und weiterzuführen.1
Die Dichte der Argumentation, in der zuvor entwickelte Konzepte und Begriffe im weiteren Verlauf stets mitgedacht, in anderen Kontexten überprüft und weiterentwickelt werden, macht das Buch zu einer durchaus voraussetzungsreichen, anspruchsvollen Lektüre. Damit erinnert High Definition geradezu an den Befund „HD ist ‚zu viel‘, too much Wirklichkeit wie Bild, Too Much World und Too Much Image“ (S. 14), was sich wiederum als formales Argument eines Denkens mit HD verstehen lässt: „Um in dieser Too Much World voll Too Much Images Gegenpositionen zu äußern, muss man sich indes in ihr auflösen“ (S. 208). Gleiches gilt auch, wie Elisa Linseisen zeigt, um sich dieser ‚Too Much World‘ voller ‚Too Much Images‘ theoretisch nähern zu können.
Linseisen, Elisa (2020) High Definition. Medienphilosophisches Image Processing, Lüneburg: meson press.