Neuformulierung und Wiederentdeckung auf dem ReMake Festival 2019
"If you go left you lose your horse, if you go right you lose yourself."
In den Erinnerungen der Protagonistin aus Larisa Shepitkos KRYLYA/WINGS (SU 1966) stellt der Geist ihres verlorenen Liebhabers jenes Rätsel. Es ist eine Allegorie auf die verworrenen Wege der Erinnerung und Geschichte(n), welche sich durch das Programm der zweiten 'ReMake – Frankfurter Frauen Film Tage' in Frankfurt 2019 ziehen. Die Kreuzungswege von persönlichem, politischem, historischem, affektivem und archivarischem verbinden die Filme und Gespräche, die vom 26. November bis 01. Dezember ihren Platz in der Frankfurter Pupille fanden. Für die Organisatorinnen der Kinothek Asta Nielsen ist jener Zugang Programm: "Ein Verhältnis zur Vergangenheit, zur (Film-) Geschichte, das aus ihr Relevantes für unsere Gegenwart birgt und wieder zugänglich macht."(Babić/Gramann/Schlüpmann 2019: 2)
Es ist nun das zweite Jahr in Folge, in welcher Gaby Babić, Karola Gramann und Heide Schlüpmann durch ein kuratiertes Programm untersuchen, inwiefern marginalisierte Geschichten in und um Film zutage treten und in eine kritische Gegenwart getragen werden können. Mit einem assoziativen Streifzug durch verschiedene Formationen der Erinnerung und Geschichte(n) im Programm des ReMake 2019 wird im Folgenden sichtbar, wie jene Filme sich untereinander austauschen und so zu einem Netzwerk unterschiedlicher Historien verknüpfen.
"Niemals wird man beweisen können, dass Millionen solcher Familienfotos übereinandergelegt etwas mit dem Ausbruch eines Krieges zu tun haben."
Dieses Zitat von Christa Wolf, welches Elfriede Irral in ihrem Film UMS FREI WERDEN HÄTTE ES JA GEHEN SOLLEN (AT 1977-84) einblendet, eröffnet einen bedeutungsschweren Diskurs, in welchem Erinnerung, Fotografie, Familie, Politik und Film sich gegenseitig beleuchten und durchbrechen. Somit entsteht ein Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus, welcher schmerzvoll ist, jedoch angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas immer notwendiger wird. In ihrem ursprünglich nur für die private Aufarbeitung bestimmten Film befragt Irral ihre persönliche Familiengeschichte, speziell das Bild ihrer Mutter, auf deren Involvierung in den Nationalsozialismus. Hierbei kehrt sie immer wieder zu Fotos ihrer Mutter zurück, berührt sie, bestickt sie, vergleicht sie mit ihrem eigenen Gesicht im Spiegel. "Ich will nicht sein wie du, ich wollte nie sein wie du, und du hast mir geholfen nicht zu werden wie du." Es bleibt die Frage offen, ob weiße 1 Deutsche der Vergangenheit, den persönlichen, familiären Pathologien des Nationalsozialismus, welche Irral präzise, jedoch auch an Stellen entschuldigend, offenlegt, jemals vollkommen entgegentreten können. Dies wird umso deutlicher im Film DAS FALSCHE WORT (BRD 1987), einer Kollaboration von Katrin Seybold und Melanie Spitta, der sowohl die nahezu unbekannte Geschichte der Verfolgung der Sinti*zze im Dritten Reich behandelt, als auch die ungenügende Aufarbeitung und Adressierung durch die BRD anklagt. Auch DAS FALSCHE WORT arbeitet mit Fotos, doch hier sind es die 'rassenwissenschaftlichen' Fotografien, welche dazu dienten, die Sinti*zza zu kategorisieren und zu entmenschlichen. Die stummen, anklagenden Blicke der Abgelichteten korrespondieren mit den Interviews der Überlebenden. Es erscheint ironisch, dass der einzige Weg der Erinnerung des Traumas über die akribisch gefertigten Dokumente und Fotografien der Täter führt. Doch es zeigt auch die Stärke der unnachlässigen Stimme von Melanie Spitta, welche die Bilder, ohne ihnen ihre zerstörerische Macht zu nehmen, in lesbare Beweise transformiert, in eine Dokumentation der Trauer um die Verlorenen und Ermordeten.
Auch in Julie Dashs DAUGHTERS OF THE DUST (US 1991) erlangt das Medium der Fotografie eine tiefreichende politische Dimension. Hier steht der Fotograf 'Mr. Snead' nicht nur für eine oft vergessene Geschichte der Schwarzen Fotografie ein, sondern auch als Kritik an einem ethnografischen Blick, welcher durch die Linse eine Wahrheit erkennen will. Wenn in einem Familienfoto im Jahr 1902 ein ungeborenes Kind aus der Zukunft erscheint, wird die angenommene Objektivität des Objektivs unterbrochen, gleichzeitig verzahnen sich Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ineinander. Hiermit wird sichtbar, dass die Kamera, sei es Film oder Foto, Geschichte nicht einfach aufzeichnet, sondern einen subjektiven Blick einfängt, welcher sich durch die Betrachtung aus der Zukunft verändern und transformieren kann. Marianne Hirsch beschreibt in ihrem Buch Family Frames Fotos als reziprok – Fotograf*in und Betrachtende kollaborieren in der Produktion von Ideologie und somit auch Bedeutung. (Hirsch 1997: 7) Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie kann so den Bildern inhärente Spannungen beleuchten und auf diese Weise Traditionen der Repräsentation hinterfragen. (Ebd. 8)
In Jacqueline Audrys OLIVIA (FR 1951) hingegen werden Fotos als traurige Zeugen einer glücklicheren Vergangenheit abgelehnt. Der Film ist nach B. Ruby Rich, welche als profilierte Kritikerin, Theoretikerin und Begründerin des Begriffs des 'Queer Cinema' selbst eine zentrale Stellung in der Filmgeschichte einnimmt, aus einer Wiederentdeckung wiederentdeckt. Bereits in den Frauenfilmfestivals der 1970er als früher lesbischer Film wiederaufgegriffen, wird er nun, in der Geschichtsschreibung jener vergangenen Bewegungen, erneut rezipiert, auch unter Betrachtung seiner vorhergegangenen Rezeptionen. Der Film selbst verweist als Teil des 'Lesbian Boarding School' Genres sowohl in die Vergangenheit (MÄDCHEN IN UNIFORM [DE 1931]) als auch auf kontemporäre Einträge weiblichen Filmschaffens (INNOCENCE [FR 2004]; CRACKS [US 2009]). Solche temporalen Schichtungen finden sich in der Form einiger Filme wieder, welche am Freitag den 29. November unter dem Motto 'queer cinema – mon ciné' liefen. So werden in ROTE OHREN FETZEN DURCH ASCHE (AT 1991), ein genderfluides, perverses, queeres Experimentalfilm-Werk von Ursula Pürrer, Dietmar Schipek und Ashley Hans Scheirl, in der Vermischung von granularem Super 8-Film, Collage, Scherenschnitt, Miniatur-Animation und Sound Überlagerungen von Zeitlichkeiten haptisch spürbar. Der Film, so erinnert sich Pürrer im Nachgespräch, sei bei der Verarbeitung von Super 8, über Video im Vorschnitt und Negativschnitt auf 16mm übertragen worden, der Sound, so Scheirl, komplett nachträglich entstanden, wobei durch Mund- und Spuckgeräusche eine maximale Nähe und Körperlichkeit erreicht werden sollte. Queere Archive, so Ann Cvetkovich, speisen sich aus Erinnerung und persönlicher Erfahrung, entgegen einer dominanten Geschichte, welche in Ihren Repräsentationen nur Stille oder Homophobie bietet. (Cvetkovich 2003: 26) Der altbewährte feministische Leitsatz, das Persönliche als Politisch zu betrachten, hat auch hier seine Aktualität noch immer nicht verloren.
Nicht nur in den Filmen aus dem queeren Block lassen sich persönliche Zugänge erkennen, sondern auch in den Bezügen vieler Filme auf die eigene Mutter, wie beispielsweise in UMS FREI WERDEN HÄTTE ES JA GEHEN SOLLEN, BENEATH THE OLIVE TREE (GR 2014), DAS FALSCHE WORT und auch Lana Gogoberidzes RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKIKHEBZE/ SOME INTERVIEWS ON PERSONAL MATTERS (GSSR 1978). In Gogoberidzes Film erinnert sich die Protagonistin Sofiko über die Gegenwartshandlung hinweg immer wieder an ihre Mutter, wobei jene Episoden jeweils durch materielle Objekte ausgelöst werden, sei es ein alter Spielzeugaffe oder das Abtasten eines Wandteppichs, welcher ehemals über dem Bett der Mutter hing. Die Erinnerungsszene, in welcher Sofiko ihre Mutter nach 10-jähriger Trennung wiedersieht, arbeitet mit filmischer Repetition, immer und immer wieder fällt sie der ihr entfremdeten Mutter in die Arme. Gogoberidze berichtet im folgenden Gespräch, dass jene Szene an ihre eigene Familiengeschichte angelehnt sei. Die Benutzung der Repetition führt sie auf die subjektive Form der Erinnerung zurück, welcher die Filmform hier folgt – das Gefühl, dass beim Aufrufen einer intensiven Erinnerung jene sich wieder und wieder im Kopf abspielt. Doch der Film beschränkt sich nicht rein auf Sofiko; Gogoberidze erzählt die Geschichten vieler Frauen, die sich ineinander reflektieren und überkreuzen. So erscheinen auch die Erinnerungen, welche im Gespräch über das 1987 bis 1990 stattgefundene Frauen-Filmfestival KIWI – Kino Women International, unter den ehemaligen Teilnehmerinnen Pavla Fridova, Gogoberidze und Rich ausgetauscht werden. Jene Ost-West Beziehungen zu Zeiten der Glasnost und Perestroyka, so Rich, basierten auf Freundschaften und Netzwerken, welche normalerweise nicht aufgezeichnet werden.
Hier zeigt sich das Bedürfnis, die Bedeutung und die Notwendigkeit eines aktiven Weiter- und Neuschreibens marginalisierter Filmgeschichte(n). In Bezug auf Maria Luisa Bembergs YO, LA PEOR DE TODAS/I, THE WORST OF ALL (AR 1990) eine Biographie der Dichterin und Nonne Juana Inés de la Cruz, sagt Rich aus, an der Welt des Films könne ersichtlich werden, dass Bemberg in ihr die Saat (seeds) der aktuellen politischen Lage im Argentinien ihrer Zeit sah. Auf ähnliche Weise erinnert die anti-imperialistische Dhofar-Rebellion in Oman, welche Heiny Srour in ihrer Dokumentation SAAT EL TAHRIR DAKKAT, BARRA YA ISTI 'MAR/THE HOUR OF LIBERATION HAS ARRIVED (UK/FR/LB 1974) aufzeichnete, und in welchem die Befreiung der Frau nicht nur als Nebenprodukt, sondern als Prärequisit für die Befreiung von faschistischen Regimes fungiert, an die kontemporären Befreiungskämpfe der autonomen kurdischen YPG in Rojava.
Werden Vergangenheit und Gegenwart auf diese Weise als voneinander durchdrungen betrachtet, so können jene Räume, in welchen wir zusammenkommen, um Filme zu betrachten, wie das ReMake 2019 sie geschaffen hat, als politische Räume verstanden werden. „There is an effort to remember" so bell hooks "that is expressive of the need to create spaces where one is able to redeem and reclaim the past, legacies of pain, suffering, and triumph in ways that transform present reality." (hooks 1989: 17) Das 'Re' in ReMake steht so für Wiederentdeckung und Neubetrachtung zugleich, in Schlüpmanns Worten eine 'Gegenperspektive' auf dominante Geschichte(n). So taten es auch die überlebenden Frauen der griechischen Konzentrationslager, welche in Stavroula Toskas Dokumentation Beneath the Olive Tree zu Wort kommen. Ihre Lebenswege wurden von der staatlichen Geschichtsschreibung übergangen und verfälscht, so eine der Zeitzeuginnen: "they will write our history any way they want." Doch die Frauen, welche ihre Erinnerungen und Autobiographien unter den Olivenbäumen vergruben, finden genauso wie marginalisierte Personen in und um das Festival einen Weg zu wiederstehen: sie schreiben ihre eigene Geschichte.
Babić, Gaby/Karola Gramann/Heide Schlüpmann (2019) Vorwort. In: Programmheft der ReMake Frankfurter Frauen Filmtage 2019, S. 2.
Cvetkovich, Anne (2003) An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures. Durham: Duke University Press.
Hirsch, Marianne (1997) Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge: Harvward University Press.
hooks, bell (1989) Choosing the Margin as a Space of Radical Openness, in: Framework 36, S. 15-23.