hrsg. von Rolf F. Nohr, Münster: LitVerlag, 2004.
Die neue Veröffentlichungsreihe "Medien'Welten" des LitVerlages versucht, den Zwischenraum zwischen Medien und Welten und ihre vielfältigen Verbindungen zu beleuchten. Der hier vorliegende, von Rolf F. Nohr herausgegebene und aus zehn Beiträgen bestehende Sammelband Evidenz … das sieht man doch! bildet den Auftakt dieses Projekts. Thema des ersten Bandes ist der Begriff und das Auftreten von Evidenz, welche als notwendige Funktion eines Mediensystems beschrieben und vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer (unter Umständen performativ zu nennenden) Erzeugung behandelt wird, womit inhärent schon Fragen der Bildlichkeit ("…das sieht man doch!") berührt sind: "Evidenz wäre so verstanden möglicherweise eine Zeigehandlung, die mediengestützt (wenn nicht gar medienspezifisch) eine Art von Wahrheitsbeweis mit dem Medium im Medium herstellt." (S. 9) Grundlegend dabei ist aber die Frage nach dem Sprachlichen als Organisationsprinzip von Ordnung, Macht und Sichtbarkeit. Der Band reiht sich damit ein in verschiedene Veröffentlichungen und Tagungen, die sich in letzter Zeit mit diesem Thema beschäftigt haben (so zum Beispiel die Kölner Tagung "Die Listen der Evidenz" oder die Berliner Tagung "Spektakuläre Experimente - Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert").
Der erste Beitrag behandelt die Vermittlungsinstanz Evidenz, mit der Karikaturen arbeiten. Ob und wie diese Vermittlung der dargestellten Problematik gerecht werden kann, beschäftigt Tom Holert. Unter Hinzuziehung verschiedener Karikaturen aus US-Zeitungen, die sich mit der letztlich manipulatorischen Evidenzproduktion der US-Regierung in der Vorbereitung des Irak-Krieges verdeutlichen, umkreist der Beitrag die Möglichkeiten, Mittel und Medien der Evidenzproduktion im politischen Diskurs, und wendet diese zugleich durch die eingefügten Karikaturen an.
Der zunächst etwas überfrachtet wirkende Text "Medien(a)nomalien – Viren, Schläfer, Infiltrationen" des Herausgebers Rolf F. Nohr entpuppt sich bei näherer Betrachtung als dezidierte Darstellung des Phänomens des Viralen. Einige der angeführten Punkte wirken zu konstruiert: so erscheint es fraglich, ob sich die Angst vor dem SARS-Virus so einfach auf eine rassistisch motivierte Angst vor den Stereotypen des 'Asiatischen' herunterbrechen lässt; oder ob der Diskurs über Computerviren mit der "Angst vor der Offenlegung der Sprachhaftigkeit des Rechners" (S. 78) zu erklären ist, wenn niemand mehr die Sprachhaftigkeit des Computers wahrnimmt. Dass solche Fragen auftauchen, spricht natürlich für den Text. Dennoch kann Nohrs Darstellung der Etablierung des Viralen (sowohl in Form von Krankheiten als auch von Computerviren) im Medialen als Moment eines diskursiven Wissens überzeugen. Evidenz ist hierbei der medieninduzierte Effekt, den die Visualisierung eines symbolischen Systems in Bildmedien hervorruft, wobei die Ideologisierung explizit mitgedacht wird: "Wir naturalisieren Ideologie, wenn wir fernsehen." (S. 60)
Die durch die Etablierung von Ausstellungsformen wie dem im 19. Jahrhundert überaus populären Panorama und das heutige Science Center hervorgerufenen Veränderungen der gesellschaftlichen wie musealen Wahrnehmungskonzepte und die damit verbundenen Veränderungen des Begriffes Evidenz sind das Thema von Ulrike Bergermann. Das ist möglich, weil in einer solchen Ausstellung des Wissens zugleich alle Darstellungstricks ausgestellt werden und sich somit die entsprechenden Konstellationen von Wissen und seiner Inszenierung beschreiben lassen, womit Macht als Funktion der Strukturen dieses Wissens erkennbar wird. Die Selbsttechniken, hier besonders die Selbstlerntechniken, werden situiert in einem Feld des 'gouvernementalen' Wissens, das Erfahrung, Selbsterfahrung und Wissen verbindet, und in Form des Science Centers das Selber-machen zur Technologie erhebt.
Ebenso wie Bergermann beleuchtet Daniel Gethmann anhand der bildgenerierenden physikalischen Theorien Lichtenbergs, Faradays, Maxwells und Hertz' die mit der Legitimationskrise der Wahrnehmung verbundene Beziehung von bildhaften bzw. letztlich sichtbarmachenden Modellen und technologischen Messdaten. In diesen sei das Untersuchte selbst repräsentiert. Er plädiert dabei gegen eine Abhängigkeit der Darstellung vom Phänomen und für eine stärkere Betonung der Vorstellungskraft des Physikers, dessen 'innere Scheinbilder' den Untersuchungsgegenstand berechnen und simulieren.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit evidenzerzeugenden Effekten im Fernsehen. So untersucht Vinzenz Hediger die aktuelle Tiersendung THE FUTURE IS WILD, einen "populärwissenschaftlichen Blockbuster" (S. 164), der in einer evolutionsbiologisch-genetischen Phantasie die Erde in 5, in 100 und in 200 Millionen Jahren imaginiert. Damit erweitert Hediger die bisherige Differenzierung des Tierfilms in den tierschützerisch-bewahrenden sowie den ökologisch-motivierten um den evolutionären Tierfilm. Diese letzte Kategorie zeichne neben einem auf evolutionsbiologisch sinnvolle Zeiträume bezogenem Zeithorizont vor allem die Tatsache aus, dass der Mensch hier als bedrohte oder ausgestorbene Tierart betrachtet werde. Dies führt letztlich zu der These, dass der evolutionäre Tierfilm im biopolitischen Feld zu situieren sei, weil er die Gentechnik als relevante und notwendige Selbsterhaltung des Menschen gegen alle Widrigkeiten der Natur etabliere.
Ein ähnliches Thema behandelt Eva Hohenberger, die zwischen den vier Begriffen Natur, Kultur, Mensch und Tier ein Spannungsfeld aufbaut, in dem sich die Tierdokumentation beschreiben lässt. Evidenz bestimmt Hohenberger dabei als eine Möglichkeit von Bildern, jede Argumentation zu unterlaufen, indem sie aus sich selbst heraus eine Conclusio erschaffen und die Prämissen gleichsam bebildern und dadurch verdecken. Beispielsweise werde durch die Zuschreibung menschlicher Eigenschaften an Tiere die Frage, ob Tiere überhaupt derartige Eigenschaften entwickeln können, verdeckt, auch wenn das Verhalten von Tieren einleuchtend als menschenähnlich erscheint.
Herbert Schwaab geht in seinem Text über die Frage nach der Evidenz und Macht von (Fernseh-)Bildern hinaus, indem er die Erfahrung der Bilder der konservativen US-Fernsehserie SEVENTH HEAVEN zu einem Erleiden der Bilder umformuliert. Dies kann nur gelingen, weil Schwaab die Erfahrung der Bilder, das Berührt-Werden von ihnen und die Fantasien über sie in den Vordergrund stellt und nicht ihre Analyse, also ganz im Sinne des Philosophen Stanley Cavell sich selbst zum Objekt der Untersuchung macht. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Eindringlichkeit der Bilder nicht auf einen analytischen Zugang reduzieren zu müssen, sondern Fragen über die Gewöhnlichkeit der Bilder als Grundlage ihrer Evidenz und auch ihrer Ästhetik zu stellen. In diesem Sinne zerstörte Fernsehen Evidenz, weil es jenseits von Bildrhetoriken zu einer eigenen Natur gelangt.
Anders als für Schwaab ist für Ralf Adelmann Evidenz notwendiger Bestandteil von Fernsehen und damit der "Kitt des 'Fensters zur Welt'" (S. 43). Ich glaube jedoch nicht, dass die beiden Auffassungen von Evidenz im Fernsehen sich widersprechen. Während Schwaab versucht, Evidenz im Rahmen einer alltäglichen Wahrnehmung zu fassen, nimmt Adelmann den Begriff der Televisualität (Caldwell) zum Ausgangspunkt einer konkreten Analyse von Nachrichtensendungen mit der Intention, in ihnen die spezifischen Formen der Evidenzproduktion im Rahmen von neuen Visualisierungstechnologien zu bestimmen.
Heike Klippel situiert Evidenz auf der der begrifflichen Erkenntnis entgegen gesetzten Seite des Vorbegrifflichen, das sie mit der Erinnerung und dem Gedächtnis als identitätsbildenden Kräften kurzschließt. Letztlich kann sie so zu einer Bestimmung des Kinos aus den Gedächtnistheorien zu Beginn des letzten Jahrhunderts kommen, die das Kino als eineindeutige Bebilderung der Vorstellung fassbar macht. Kino kann dementsprechend nicht mehr als Repräsentation gedacht werden, sondern muss innerhalb eines Gedächtniskonzeptes verortet werden, das gerade im Medium Film gründet.
Leander Scholz thematisiert Evidenz unter dem Stichwort Selbstreferenz/Luhmann, und kommt so zu der komplexen These, dass die Konzeptualisierung des Selbst von einem in sich gespiegelten Prozess abhängt. Anhand des Narziss-Mythos stellt Scholz fest, dass im Moment der Spiegelung das Evidenzerlebnis "Ich bin es!" abhängig ist vom Urteil "Ich bin es nicht!", dass also Interpellation und Interpenetration zusammengehören und eine Selbstreferenz erst ermöglichen.
Die offensive Herangehensweise an thematisch unterschiedliche Felder – immer unter dem Aspekt Medien – ist sinnvoll und liefert ein fundiertes und facettenreiches Bild davon, welche Möglichkeiten der zeitgenössischen Medienwissenschaft in der Behandlung ästhetischer und politischer Fragestellungen zur Verfügung stehen. Dass aber leider die meisten Texte das Thema Evidenz nur am Rande behandeln, ohne es als Ausgangspunkt gewählt zu haben, ist in so weit verzeihlich, als die Qualität der Texte durchgehend überzeugt. Ob der Band letztlich einer genaueren Bestimmung von Evidenz Eckpunkte setzen kann, steht allerdings im Raum und macht eine weitere Auseinandersetzung mit einem zugleich schwierigen und spannenden Begriff notwendig. Einen variantenreichen Überblick kann Evidenz…das sieht man doch! in jedem Fall garantieren.
Nohr, Rolf F. (Hg.) (2004) Evidenz…das sieht man doch! Münster: LitVerlag.