Über ROTER HIMMEL von Christian Petzold
Bemerkenswert langsam, beinahe widerwillig, legt sich Leon sein Arbeitsmaterial zurecht: Laptop, Manuskript, Notizheft, Federmäppchen. Damit begibt er sich zu der kleinen Gartenlaube und will mit dem Schreiben beginnen: Er tippt ein paar Buchstaben, rutscht auf seinem Stuhl hin und her, wartet auf Inspiration. Doch die kommt nicht. Stattdessen beschäftigt er sich damit, einen Tennisball immer wieder gegen die Rückwand des reetgedeckten Ferienhauses zu werfen, ganz so wie es Jack Nicholson in THE SHINING (USA/UK 1980) tut. All work and no play…
ROTER HIMMEL (D 2023), Christian Petzolds jüngste Regiearbeit, entwirft und verwebt multiple Arten der Krisenhaftigkeit. Zwischenmenschliche Krisen, eine gesundheitliche Krise, die Klimakrise und vor allem: Leons künstlerische Krise als Autor. Neben und mit den gegenseitigen Beziehungen der vier jungen Menschen, die im Mittelpunkt des Films stehen, lotet er auch die Beziehung zwischen der Welt, der Literatur und dem Filmischen aus.
Dass Petzolds Schaffen der letzten Jahre in einem engen Verhältnis zur Literatur steht, ist unschwer zu erkennen: TRANSIT (D/F 2018) verlegt die Handlung des Romans von Anna Seghers in die Gegenwart und UNDINE (D/F 2020) bezieht sich über seine literarischen Vorlagen, seine Ästhetik und Motivik klar auf die deutsche Romantik. Andreas Becker bezeichnet Petzold als „literarische[n] Filmemacher“, was er mit der besonderen Relevanz des Drehbuchs für dessen Arbeiten und der Bedeutung der gesprochenen Sprache innerhalb seiner Filme begründet (Becker 2022: 3f.). Die Wichtigkeit der Sprache zeigt sich auch in ROTER HIMMEL. Hier ist es insbesondere die geschriebene Sprache, die zum Angelpunkt des Konfliktes wird. Sie ist auf seltsame Weise zugleich an- und abwesend, denn tatsächlich schreibend sehen wir Leon so gut wie nie und die Resultate dieser unsichtbaren Arbeit kriegen wir vor allem als gesprochenen Text zu hören.
Leon (Thomas Schubert) schreibt an seinem zweiten Roman, Club Sandwich soll er heißen. Sein Hadern mit dem fast beendeten Manuskript und insbesondere die zurückhaltenden Reaktionen seines Verlegers (Matthias Brandt) resultieren in einem Zustand der Dauergereiztheit und Anspannung, der zur Belastungsprobe für seine Mitmenschen (und die Zuschauer*innen) wird. Petzold inszeniert diesen von Selbstzweifeln geplagten Autor mit einem Hauch Ironie und bis an den Rand der Überzeichnung, ohne dabei die der Figur inhärente Tragik zu verbergen. Um endlich sein Buch abzuschließen, bezieht Leon mit seinem Freund Felix (Langston Uibel), der an seiner Bewerbungsmappe für ein Fotografie-Studium arbeiten will, das Ferienhaus von dessen Familie in unmittelbarer Nähe der Ostsee. Leon erhofft sich hier einen ruhigen Ort, an dem er sich ohne Ablenkungen ganz auf seine Arbeit konzentrieren kann. Felix wiederum nimmt es mit seinem künstlerischen Projekt nicht so genau: Priorität hat für ihn das Schwimmengehen und Am-Strand-Liegen. Leons Wunsch nach einem ruhigen, klosterartig-abgeschottetem Arbeitsumfeld erfüllt sich aber nicht. Überraschenderweise sind die beiden nicht allein im Haus, denn die etwa gleichaltrige Nadja (Paula Beer), die im nahegelegenen Ostseebad als Gastronomie-Saisonkraft arbeitet, bewohnt ebenfalls ein Zimmer. Zunächst stört sich Leon an ihrer Anwesenheit, vor allem an der, durch Nadjas nächtlichen Männerbesuch (Enno Trebs) verursachten, Geräuschkulisse. „Ich will schlafen“, grummelt er mürrisch und müde in Richtung Felix, „Ich muss morgen arbeiten, und du auch“.
„Ich muss arbeiten“ ist der Satz, den er im weiteren Verlauf des Films immer wieder mantrahaft von sich geben wird. Es handelt sich um einen zentralen Satz des Films. Die literarische Arbeit, oder viel mehr die potenziell zu erledigende literarische Arbeit, dient ihm als Schutz vor der Welt, als ein Panzer, durch den er sich abschotten und den Geschehnissen um ihn herum, und vor allem seinen Gefühlen gegenüber Nadia, entziehen kann. Leon versucht eine Welt zu Papier zu bringen, doch lässt die ihn umgebende nicht an sich heran. Diese Abschottung scheint im Zusammenhang mit seinem misslingenden literarischen Arbeitsprozess zu stehen. Leon will schreiben, aber kann nicht.
Die Fragilität und Maskenhaftigkeit seines immer wieder offensiv zur Schau gestellten Arbeitsethos ist Leon voll bewusst. Das führt mitunter zu durchaus komischen Szenen. Um nicht beim Prokrastinieren erwischt zu werden, sprintet er etwa, als Felix vom Strand zurückkommend den Garten betritt, beinahe Slapstick-artig zu seinem Arbeitsplatz in der Laube zurück. In einer an Hitchcock erinnernden Kamerafahrt wird dabei kurz seine Perspektive eingenommen; er kann gerade noch dem Blick des herannahenden Felix entgehen (oder glaubt das zumindest) und seine Fassade aufrechterhalten. Und kurz nachdem er auf Nadjas Frage, ob er mit ihr schwimmen geht, abermals mit „Die Arbeit lässt es nicht zu“ antwortet und allein am im Garten aufgebauten Essenstisch sitzen bleibt, greift er sich heftig kopfschüttelnd an die Stirn: „So ein Arschloch, du bist so ein Arschloch“. Die Kamera zeigt ihn hier aus größerer Distanz, als vereinzeltes Subjekt im Bildkader, während sie das vorherige Miteinander am Essenstisch ihn nahen, scheinbar an der Unterhaltung der Figuren partizipierenden Bildern einfängt. ROTER HIMMEL erzählt vom „In-der-Welt-Sein und möglicherweise doch An-ihr-vorbei-Leben“, wie es im Ankündigungstext der Berlinale 2023 heißt. Leon wird häufig als Beobachter inszeniert; steht hinter Fenstern und Bäumen, liest heimlich in Nadjas Notizbuch. In der vom Film entworfenen Situation, ist sein Verhältnis zur ihn umgebenden Wirklichkeit und zu seinen Mitmenschen ein distanziert-einseitiges. Die Teilhabe an der kleinen temporären Gemeinschaft ist ihm kaum möglich. Leben und Schreiben scheinen hier gegenübergestellt und beides kann Leon nicht recht gelingen.
Das Ferienhaus und vor allem dessen Garten ist das Epizentrum des Films. Eine beinahe heterotopische Welt, in die alles von außerhalb nur peripher hereindringt. So auch der rote Feuerschein der umliegenden und immer näher heranrückenden Waldbrände, den die Hausbewohner vom Dach aus betrachten. Die Waldbrände fungieren als konstante, unterschwellige, und erst zum Ende des Films hin explizit werdende Bedrohung, die eine Art Rahmung für die verhandelten Konflikte und Figurenkonstellationen darstellt, auch in topologischer Hinsicht. Die rahmende, kreisartige Struktur des von Wald umgebenen Geländes setzt sich bis hin zu dem im Freien aufgebauten Essenstisch fort. Hier werden die Beziehungen der Figuren und, als später noch Leons Verleger Helmut hinzustößt, auch deren Verhältnis zur Literatur ausgehandelt. Hier erfährt Leon, dass Nadja eigentlich Literaturwissenschaftlerin ist und gerade an ihrer Dissertation über „Das Beben der Liebe“ in Heinrich Heines Gedichtband Romanzero schreibt. Argwöhnisch beobachtet er Helmuts großes Interesse an Nadjas Vorhaben – ein Interesse, dass dieser Leons eigenem Buchprojekt nur bedingt entgegenbringt.
Während Paula Beer im Vorgänger UNDINE das titelgebende literarisch-mythische Wesen verkörpert, begibt sie sich mit ihrer Rolle als Nadja gewissermaßen in eine Meta-Position und verhält sich reflexiv zur Literatur und ihrer eigenen Rollengeschichte. Am sommerlichen Abendessenstisch rezitiert sie zweimal hintereinander Heines Gedicht Der Asra. Dieses Rezitieren ist ein Höhepunkt des Films. Im Gedicht ist unter anderem von einem „jungen Sklaven“ und dessen unerfüllter Liebe zur „wunderschönen Sultanstocher“ die Rede, und auch von denen „welche sterben, wenn sie lieben“. Dieses Gedicht als Schlüssel zum Verständnis des Films zu betrachten, greift sicherlich zu kurz, dennoch sind die gegenseitigen Bezüge von Gedicht und Filmhandlung offenkundig: Leons ‚sklavisches‘ Verhältnis zur literarischen Arbeit, seine kaum zum Ausdruck gebrachte Liebe zu Nadja, und schließlich Felix‘ und Devids gemeinsamer Tod, eng umschlungen, im Waldbrand. Diese Ereignisse werden zum Wendepunkt für Leons literarisches Schaffen.
Während es über weite Strecken des Films vor allem ein bestimmendes Element der Handlungsebene ist, greift das Literarische gegen Ende auch unmittelbar auf die filmische Form zu. Dadurch entsteht die wohl beklemmendste und zugleich eindrücklichste Sequenz des Films: Als Leon Nadja gesteht, dass er von Anfang an in sie verliebt gewesen sei, kommen zwei Polizisten auf das Grundstück, und teilen mit, dass Felix und Devid tot aufgefunden wurden. Leons Geständnis bleibt unerwidert. Beginnend mit den Worten „Das Feuer muss wie eine Walze auf sie zugekommen sein“, legt sich nun aus dem Off die rezitierende Stimme des Verlegers über die folgenden, zunächst eher lose, dann immer stringenter zusammenhängenden Bilder. Zu sehen sind die verkohlte Waldlandschaft, tote Tiere, der ausgebrannte Traktor, die beiden Körper, bedeckt von einer Isolationsdecke; schließlich Leon und Nadja bei der Obduktion der Leichen in der Pathologie. Wie sich am Ende der Sequenz zeigt, ist es das Schlusskapitel von Leons nun neu entstandenem Buch, dass ihm von seinem Verleger vorgelesen wird. Mit einem wissenden Lächeln gibt er Leon zu verstehen, dass der Text gelungen ist.
Die Ereignisse in dieser Sequenz sind chronologisch wiedergegeben und somit in der Diegese des Films gegenwärtig. Dadurch aber, dass sie an den nachträglich formulierten Text gebunden sind, sind sie zugleich als vergangen und retrospektiv markiert. Die Bilder führen in ihrer Montage zum Zeitpunkt des Vorlesens hin, bis Bild und Stimme wieder in einer zeitlichen Synchronizität stehen. Diese doppelte Zeitlichkeit und die elliptische Montage verbergen den Produktionsprozess des literarischen Textes. Der mündlich vorgetragene und doch schriftlich fixierte Text scheint nahezu organisch aus den Bildern hervorzugehen, beziehungsweise die Bilder aus ihm. Das genaue Verhältnis beider Elemente zueinander ist schwer zu bestimmen, teils sind sie deckungsgleich, dann wieder gibt es Differenzen zwischen ihnen, so dass die filmischen Bilder den literarischen Text, oder umgekehrt dieser die Bilder anreichert und mit zusätzlicher Bedeutung versieht. Die Sequenz beschleunigt das zuvor eher langsame Erzähltempo, bündelt die Ereignisse zu einem kohärenten Fluss und erzählt gleichzeitig auch von Leons schriftstellerischer Genese. Nun, durch eigenes, unvermitteltes Erleben und Erfahren einer ihn direkt betreffenden tragischen Begebenheit, gelingt es ihm endlich ein künstlerisches Werk zu schaffen. Sein alter Text ist verworfen, ein neuer ist entstanden. Die Kongruenz aus literarischem Werk und unmittelbarem Welterleben scheint hier die Formel für gelungenes und bedeutsames literarisches Schaffen zu sein. Das bringt aber auch einen bitteren Beigeschmack mit sich, denn sein (potenzieller) künstlerischer (und damit möglicherweise auch finanzieller) Erfolg wird erst ermöglicht, durch den grausamen Tod von Felix und Devid. Die letztendlich aus der Klimakrise resultierende Vernichtung von Natur und Leben, bildet die Grundlage für seine schriftstellerische Produktion. Im Rückblick wird so der gesamte Film, der ja vor allem an Leons Wahrnehmung beziehungsweise Nicht-Wahrnehmung seiner Umwelt interessiert ist, zu einem einzigen imaginärem Schreibakt, an dessen Ende das fertige Buch steht.
Kurz vor dem Abspann drängt sich mit aller Gewalt der Ton nach vorne. Als Leon einige Zeit nach den Ereignissen Nadja unerwartet wiedersieht – sie wechseln kein Wort, sondern betrachten sich nur lächelnd- schwillt das von einer Orgel intonierte Andate von Ryuichi Sakamoto langsam an, darunter mischen sich die Töne von Kirchenglocken. Die daraus resultierende, nahezu ins Parodistische schweifende, Sakralisierung und Überhöhung der Bilder erzielt dennoch ihre Wirkung. In diesen letzten Sekunden des Films, in der Musik, in den Blicken, sind beinahe alle seine Themen kondensiert: Die Fragen nach Opferbereitschaft gegenüber der Kunst, sich selbst und den Mitmenschen, wie und warum wir lieben und in was für einer Welt wir in Zukunft leben wollen.
Becker, Andreas (2022) Fragen, rätselhafte Ellipsen und filmische Enigmen. Zur Einführung, in: Andreas Becker (Hg.): Christian Petzold (Film-Konzepte 65). München: edition text + kritik 2022, S. 3–20.
N.N. (2023) Ankündigungstext der Berlinale 2023 zu ROTER HIMMEL. https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202309168.html.