Wieder gesehen anlässlich der Reihe "Essayfilme" im Bremer Kino 46 (kuratiert von Lilian Rothaus und Jula Schürmann)
Was soll man schreiben über einen Essayfilm und seinen Autor? Sind biografische Daten des Filmemachers für eine Filmkritik von Bedeutung? Soll man erwähnen, dass der Filmemacher 1960 geboren ist, dass er von armenischen Eltern abstammt, die beide ausgebildete Kunstmaler waren und von einem Möbelgeschäft lebten – in Ägypten? Soll man anmerken, dass er mehrsprachig aufwuchs und dass die Familie 1963 nach Kanada zog? Und dass er jetzt Kanadier ist, einer der führenden Filmemacher Kanadas? Ist es von Bedeutung, dass in fast allen seinen Filmen seine Ehefrau Arsinée Khanjian die Hauptrolle spielt – so auch im Film CALENDAR? Und ist es wichtig, dass Arsinée Khanjian ebenfalls armenischer Abstammung ist, dass sie in Beirut aufwuchs und 1975 mit ihrer Familie nach Kanada floh? Soll man berichten, dass sich beide beim Politikstudium kennen lernten? Und sollte man schließlich alle diese Fakten, die unserem Internetgedächtnis Wikipedia entstammen, in eine Frageform übersetzen, um damit ihren Nachrichtenwert anzuzweifeln?
Was gewinnt man, wenn man aus dem Modus des faktischen "So ist es!" oder "So-ist-es-gewesen!" in die Frageform und den Konjunktiv wechselt, und damit über Möglichkeiten des Sprechens und Schreibens über Film nachdenkt? Über das: Was soll man sagen? – Was kann man schreiben? Und wer ist man, der an dieser Stelle etwas schreibt über einen Film von Atom Egoyan, über den Film CALENDAR, aus dem Jahr 1993?
Kann man über den Film eines Regisseurs – über den Film eines anderen Menschen schreiben – ohne über sich selbst zu schreiben? Und wenn ich von mir ausgehe, was sollte ich dann schreiben? Wie kann ich ein Verhältnis zum Film des anderen aufbauen? Wie mich zu ihm – zu seinen Bildern und Tönen ins Verhältnis setzen? Soll ich auf Gemeinsamkeiten setzen oder auf Differenzen? Gibt es moralische Verpflichtungen, direkte oder indirekte? Muss ich das Stichwort "Völkermord" erwähnen? Und wenn ich das tue, was mache ich mit der unweigerlich auftreten Differenz, die bei diesem Stichwort zwischen uns entstehen wird – zwischen einer Täter- und einer Opfergenealogie, auch wenn wir beide Spätgeborene sind und der eine Völkermord mit dem anderen nichts zu tun hat?
Aber kann man das schreiben: Der eine Völkermord hat mit dem anderen nichts zu tun? Welche Verbindungen gibt es, wenn man genauer hinschaut? Oder lieber ganz auf dieses Stichwort verzichten, um eine unnötige Schwere der Erinnerung zu vermeiden, die der Leichtigkeit des Films ganz und gar nicht entspricht?
Also lieber auf Gemeinsamkeiten setzen, und die Kirchen oder den Berg Ararat thematisieren. Der Berg Ararat auf dem die Arche Noah nach der Sintflut aufsetzte, ist ein mythischer Ort der biblischen Ikonografie – und man könnte mit einer Notiz zur mythologischen Bedeutung dieses Berges einsteigen. Aber ist es diese Ikonografie auf die Egoyan anspielt? Oder ist die Bildbedeutung des Berges im Kontext Armenien eine ganz andere, eine nationale Ikonografie? Welche Rolle spielt aber die Kirche – die Kirchen, die im Film immer wieder zu sehen sind und die für einen Kalender fotografiert werden?
Berg und Kirche könnten ein Ausgangspunkt sein für ein Verhältnis zu Film und Regisseur. Ein Berg ermöglicht es, wenn man ihn besteigt, einen Überblick zu gewinnen. Wer Erkenntnisse sammelt, verschafft sich einen Überblick. Ein Wissenschaftler arbeitet "über" ein Thema. Er beugt sich am Schreibtisch über seinen Gegenstand. Und einen Überflieger nennen wir ein Wissenschaftler, der seine Thesen nicht gründlich fundiert hat. Dennoch ist klar: Erkenntnis wird aus einer Perspektive des Überblicks gewonnen und mit einer Umstandbestimmung des Ortes deklariert, die ins Metaphorische transformiert ist. Im Deutschen "über" im Englischen "on". So verbindet sich die Sprache in ihren Umstandbestimmungen mit bestimmten Haltungen der Wissenschaft, die sich auch visuell in Form von Positionierungen und Perspektiven wieder finden.
Wenn ich also über Egoyan schreibe – im wissenschaftlichen Sinne über einen seiner Filme – dann sollte ich nicht nur mehr Wissen zusammentragen, als es der Autor Egoyan selbst hat (Imperativ der Wissenschaft), sondern ich positioniere mich auch räumlich über Egoyan – stelle mich vielleicht auf seine Schultern und sehe – so bilde ich mir ein – etwas weiter, etwas besser, als dieser selbst.
Kirchen verweisen mit ihrem Kirchturm auf den anderen Ort des Himmels, als den Ort des allwissenden Gottes, mit dem die Wissenschaft und die Kritik konkurrieren. Die Wissenschaft bildet sich als Weg der Erkenntnis insbesondere als Geisteswissenschaft an der göttlichen Metapher des hl. Geistes heraus. Auch die Wissenschaft bildet dabei Türme aus, weltliche Tempel. Früher hießen sie Elfenbeintürme. Heute heißen Sie Leuchttürme der Exzellenz – oder neuerdings Cluster. Und Exzellenz ist ein alter Titel für kirchliche oder weltliche Herrscher, und hat nicht unbedingt mit Erkenntnis, sondern eher mit Macht zu tun.
Kirchen verweisen aber nicht nur auf den Himmel. Sie bilden auch konkrete, weltliche Architekturen aus. Es sind besondere Häuser, die man betreten kann und die innerhalb der abendländischen Geschichte die Funktion haben, einen Ort anzugeben für die Erfahrung von Transzendenz im Diesseits. Damit ist nicht nur die Kommunikation mit Gott gemeint, sondern auch eine Kommunikation mit den Toten und Abwesenden. In der Kirche wird nicht nur der Toten gedacht, sondern auch an Ihre mögliche Auferstehung und Wiederkehr. Es ist eine Institution, die uns mit unserer eigenen Sterblichkeit konfrontiert, mit der Erfahrung des eigenen Todes, einem Jenseits, von dem wir keine Kenntnis haben können: nur die einer Grenze. Kirchen sind aber auch Orte zum Gedächtnis derer, die vorübergehend abwesend sind – Seeleute, der Onkel in Amerika – und das Gebet ist eine Kommunikationsform mit Abwesenden.
Die säkulare Fortsetzung dieser Kommunikation sind Telegramm und Telefongespräch – heute SMS und e-mail. Unsere technischen Medien sind die Erben dieser älteren Medien. Und so gibt es auch eine Verbindung von Kirche und Kino. Telefon, Anrufbeantworter, Film und Fotografie machen die Kommunikation mit Abwesenden möglich – oder besser: sie halten die Erinnerung an Abwesende wach. Sie bilden Kollektive aus. Das Fotoalbum ist Teil bürgerlicher Familienbande. Und das Kino strukturiert ganze Gesellschaften. Es hält den Schmelztiegel USA zusammen mit seiner mythischen Geschichte des Westerns und bildet mit seinen Verbindungen von Gangster und Geschäftsmann den ökonomischen und moralischen Handlungsmodus der Vereinigten Staaten von Amerika heraus.
CALENDAR skizziert auf andere Weise dieses Erbe der Medien, die Verbindung von alten und neuen Medien und ihre Funktion der Kollektivbildung. Das Telefon wird als Instrument der Anrufung von Abwesenden inszeniert. Mit dem Telefon werden in CALENDAR keine "normalen" Gespräche geführt. Wir hören nur unbeantwortete Nachrichten durch den technischen Anrufbeantworter, wir hören gestörte Kommunikation. Und wir hören inszenierte, gefakte Telefongespräche. Die Medialität des Telefons wird im Scheitern der Kommunikation ausgestellt und im So-tun-als-ob. Sie schließt damit unmittelbar ans Gebet an.
Die zentrale Figur dieses medialen Erbes ist das gemeinschaftsbildende Moment. Es hat seine eigene Konfiguration in einem geteilten Raum, sei es nun die reale Kirche, der mediale Raum des Kinos oder der hypermoderne Chatroom des Internets. In allen diesen Räumen dient die Präposition "mit" der Beschreibung eines Verhältnisses von Austausch und Gemeinschaft –, das sich von den Konfigurationen des "über" unterscheidet. CALENDAR thematisiert diesen Raum des Miteinander auf sehr unterschiedliche Weise. Der Film selbst schafft diesen gemeinschaftlichen Raum, in dem die Stimmen der drei Protagonisten zu hören sind. Er schafft aber auch die Anordnung ihrer Trennung oder ihrer nur partiellen Verbindung.
Die Fotografie macht in diesem Film das Gegenteil und entleert die Menschen aus dem Bildfeld, verbannt sie ins Off oder macht sie zum Teil einer Vergangenheit.
Die Fotografie zeigt uns die Unmöglichkeit von Transzendenz. Transzendenz heißt Hinübersteigen, Hinübergehen. In ein Foto kann man nicht hinein steigen. Der Film hingegen macht es möglich, zumindest während der Aufnahme in den Bildrahmen hineinzulaufen oder aus einer Einstellung zu verschwinden. Und es gibt Montagen, die unterschiedliche Räume so miteinander verknüpfen, als wäre es ein gemeinsamer Raum.
Der filmische Raum ist ein Raum, in dem man sich plötzlich nach Armenien bewegen kann, zum Ararat und zwar nicht zum mythisch-biblischen Bild des Ararats, sondern zum wirklichen Berg, oder wenigstens zur Begegnung mit dem fotografisch-filmischen Bild dieses Bergs.
Das Kino ist die Institution der säkularen Transzendenz, eine Technik des Hinübersteigens und Hinüberspringens. Sein Verfahren ist der Übersetzung ähnlich, eine "Translation", d.h. Bedeutungen von einer Sprache in eine andere zu übertragen. CALENDAR handelt von Übersetzungen. Film kann aber auch die Unmöglichkeit der Übersetzung auf vielfältige Weise inszenieren, so z.B. wenn Figuren plötzlich verschwinden oder wenn ein ganzer Monolog im Film unübersetzt bleibt.
Als letztes Wort: der Film wurde mit deutschen Untertiteln gezeigt. Untertitel befinden sich am unteren Bildrand. Sie liefern gleichsam Inschriften des Bildes. Sie kennzeichnen einen Film als "fremd". Atom Egoyan hat dazu ein ganzes Buch herausgegeben, indem die Frage des Untertitels auf vielfältige Weise problematisiert wird. Historisch von seinen Anfängen bis in die Gegenwart, aber auch theoretische Überlegungen werden darin angestellt. Egoyans Untertitel fügen dem Film eine weitere Erfahrung der Fremdheit hinzu, die das Original aber auch schon zum Thema hat. Die Untertitel zeigen den Zuschauern, dass man in einen Film hineinschreiben kann. Sie ermuntern die Zuschauer, ihre eigenen Geschichten hinzuzufügen – und wenn nicht real, so doch imaginär.