Ein später Nachruf auf Bernardo Bertolucci, dessen vorletzter Film THE DREAMERS (2003) das Kino zum Katalysator gesellschaftlichen Aufbruchs erklärt.
Es fängt an mit dem amerikanischen Kino, mit Hollywoods Outlaws wie Samuel Fuller und Nicholas Ray. In der Pariser Cinémathèque, es ist Frühling und die Mai-Unruhen stehen noch bevor, schauen Matthew (Michael Pitt), Isabelle (Eva Green) und Theo (Louis Garrel) Fullers SHOCK CORRIDOR (1963). Der Protagonist des Films lässt sich in eine psychiatrische Anstalt einweisen, um undercover den Mord an einem Insassen aufzuklären. Das Kino nimmt seinen Lauf, die Drei werden eingeschworene Freunde, Liebhaber und noch mehr: „Films are like crimes and filmmakers are like criminals“, heißt es vorausschauend.
Bernardo Bertoluccis THE DREAMERS (2003) endet mit dem Ausbruch der Mai-Revolte, fokussiert aber hauptsächlich jene Wochen davor. Bertolucci versucht nicht, wie zu historischen Jubiläen üblich, die Ereignisse zu rekapitulieren, abschließend zu bewerten und ad acta zu legen. THE DREAMERS beschwört das Kino selbst und dessen rechtmäßige Position als radikalste Kunstform der kapitalistischen Moderne. In Fullers SHOCK CORRIDOR, eigentlich ein Schwarzweißfilm, ereilen den Protagonisten, auch so ein Träumer, immer wieder phantasmatische Farbsequenzen rauschender Wasserfälle, die von Bertolucci zu Filmbeginn zitiert werden. Ein wilder Strom der Bilder jagt über die graue Anstaltskulisse hinweg, sprengt alle Barrieren. Das junge Publikum sieht gebannt zu, vergisst an seinen Zigaretten zu ziehen, die nun achtlos im Mundwinkel herunterbrennen.
Wenig später tobt vor dem Saal eine Schlacht. Polizisten schlagen auf Kinogänger ein, diese schlagen zurück, fliehen schließlich vor der Übermacht, zumindest für den Tag.
Das Kino als Tanz der Revolution - drängender und mächtiger als Gedichte, Gemälde und Theater - das ist Bertoluccis Anliegen. Eines Abends sitzt man in der elterlichen Wohnung beim Abendessen und diskutiert. „Ein Gedicht ist eine Petition, eine Petition ist ein Gedicht“, formuliert Theos und Isabelles Vater. Das sei, wie Theo spitz bemerkt, sein berühmtester Satz, der ihm Ansehen und Karriere verschafft habe. Im Louvre, die drei Protagonisten spielen BANDE Á PART (1964) nach, rennen sie mit Godards Film um die Wette durch die Ausstellungsräume: Fremdkörper in der Atmosphäre konzentrierter Sammlung vor dem musealen Kunstwerk. So schnell wie die Drei hineinrannten, sind sie auch schon wieder verschwunden. So oft sie ins Kino gingen, so oft verbringen sie nun Stunde um Stunde mit Diskussionen über Film und Politik in der Wohnung der verreisten Eltern. Die sexuelle Spannung steigt.
Diese permanenten Wechsel von Innen und Außen und der daran geknüpften Perspektive sind ein zentrales Verfahren von Bertoluccis Film und zugleich radikale Kino-Ontologie. In der Kollision der filmischen Einstellungen vollzieht sich ein Umbruch der politischen Einstellungen, ein Aufsprengen der approbierten Weltanschauungen.
Befinden sich Matthew, Isabelle und Theo im Kino, innen und scheinbar abgeschieden, eröffnet sich ihnen eine Welterfahrung, die sie außerhalb ihres bürgerlichen Alltags befördert. Das Kino wird zur Urgewalt, die durch die Tristesse des SHOCK CORRIDOR spült. Im Innern der Wohnung, wo sich die erotischen Spiele der Drei immer weiter steigern, ziehen sich abwechselnd zwei von ihnen zurück, während der jeweils Dritte erst beobachtet und dann dazukommt. Irgendwann legt man gleich zu dritt los und als alles in einer Katastrophe zu enden scheint, bricht ein neuer, lebensrettender Widerspruch in Perspektive, Raum und somit auch Gesellschaftsformation herein. THE DREAMERS ist keine Erzählung über den Rückzug vor der Welt ins Kino, es geht dem Film viel mehr darum, mit dem Kino die Unmöglichkeit solcher Flucht herauszuarbeiten.
Das Kino ist das Gegenteil von Weltflucht, denn alle Blicke in der Filmerfahrung wie im erotischen Spiel laufen auf die Frage nach möglicher konstellativer, räumlicher, gesellschaftlicher Veränderung hinaus. In der Montage verschiedener Einstellungsgrößen, im Umschlag von Innen nach Außen, von Schuss zu Gegenschuss, kann das Bewusstsein der umgebenden Welt niemals sediert, sondern stattdessen nur stetig neu geschaffen werden. Der zwischen den Dreien leidenschaftlich diskutierte Buster Keaton hat sich in seinem letzten Filmauftritt, Samuel Becketts bezeichnenderweise einfach FILM (1965) betiteltem Werk, genau dieses Prozesses angenommen. Keaton versucht darin, alle Blicke, die ihn treffen könnten, auszuschalten, zu durchkreuzen, zu verhängen. Er demontiert die Fotos an der Wand, schickt die Haustiere fort etc. Allein im Schaukelstuhl sitzend, wandert Keatons Blick in einer langen Einstellung die Wände des Raums ab und steht schließlich sich selbst gegenüber als Gegenschuss: Eine widersprüchliche Struktur der Blickachsen, der sich zu entziehen unmöglich ist. Das machen Keatons FILM und das Kino überhaupt aus, wie Gertrud Koch mit Adorno argumentiert,
die Inszenierung des Schreckens genau vor der Einsicht, dass der Wunsch nach der Auslöschung des Bewusstseins, des Übergangs ins Nichts, etwas Unmögliches anstrebt. Der Eskapismus muss notwendig scheitern (Koch 2016 : 30).
Suspendiert das Kino nicht nur für eine Weile vom bürgerlichen Alltag, fragt es noch dazu, wie hernach mit diesem weiter zu verfahren ist. Während der Diskussion mit den Eltern beim Abendessen sieht Matthew in disparaten Größenmaßstäben plötzlich vereinbare Größen: Tischdeckenmuster, Nasen, Handknöchel - alle vereinen für ihn die Maße eines amerikanischen Benzinfeuerzeugs, das auf dem Esstisch liegt und dem später noch entscheidende Bedeutung zukommt.
Auf eine Weise hat Bertolucci mit seinem Film eine eigensinnige Hommage an Vincente Minellis großartigen AN AMERICAN PARIS (1951) vorgelegt, denn auch hier geht es um die Begegnung junger Amerikaner und Franzosen, um künstlerische Autonomie und Warengesellschaft, um die Liebe noch obendrein. THE DREAMERS verschweigt nicht, wie wichtig amerikanische Musik und amerikanische Filme für sowohl die Filmemacher der Nouvelle Vague und anderer neuer Wellen, als auch für die revoltierenden Studenten waren. Trennen Minelli und Bertolucci zwar Jahrzehnte und veränderte Filmlandschaften, teilen ihre Filme doch die Lust, an scheinbar unabänderliche Zustände zu rühren. Während am Ende von Minellis AN AMERICAN IN PARIS eine alles verändernde siebzehnminütige Tanzszene steht, tanzen am Ende von Bertoluccis Film die Verhältnisse. Mit der befreiten Unlogik eines Träumers assoziiert das Kino sein ästhetisches Material zu völlig neuartigen Gebilden. In THE DREAMERS ist das keine historische Aufarbeitung, sondern sehnsüchtige Wiederbelebung. Der Ausgang bleibt ungewiss. Auch wenn der Einzelne sich niemals über die ihn produzierenden sozialen Verhältnisse erheben kann, produziert massenhafter Kinokonsum hier eine Erhebung der Massen. Das Innen des Films führt zu seinem politischen Außen. Auf das Kino folgt die Revolution.
Koch, Gertrud (2016) Zwischen Raubtier und Chamäleon, Judith Keilbach/Thomas Morsch (Hg.), Paderborn Wilhelm Fink.