Zu Gus van Sants ELEPHANT (USA 2003)
Die Ereignisse, deren Ensemble unsere Welt ausmacht, bemerkt Leibniz in der Theodizee, sind dadurch ausgezeichnet, daß sie kompossibel sind, d.h. zusammen bestehen können. Aus der Menge der möglichen Welten hat Gott die bestmögliche ausgewählt, also nicht die beste Welt schlechthin, sondern nur die beste aller möglichen Welten. Wenn unsere Welt die bestmögliche ist, so darum, weil in ihr ein Maximum von Ereignissen zusammen bestehen können, weil sie die größte Varietät aufweist. Die möglichen Welten dagegen sind untereinander inkompossibel, insofern die Existenz der einen die Existenz aller anderen ausschließt.
Gilles Deleuze, der wie kein anderer unter den zeitgenössischen Denkern das Ereignis zum Einsatz der Philosophie gemacht hat, hat zu bedenken gegeben, daß unsere Welt – im Gegensatz zu derjenigen Leibnizens – weniger durch den Ausschluß als vielmehr durch den Einschluß der Inkompossiblen in die Welt charakterisiert ist. Deleuze drückt dies dadurch aus, daß er sagt, daß die Ereignisse oder genauer, die Serien der Ereignisse in "unserer" Welt nicht konvergieren – gemäß einem Prinzip, das für Leibniz mit der Güte Gottes zusammenfällt –, sondern auseinanderlaufen und sich unaufhörlich gabeln, so sehr, daß gerade diese Divergenz zu einem Mittel der Kommunikation der Ereignisse wird und veranlaßt, daß zwischen den unverträglichen Serien eine eigentümliche Resonanz zustande kommt.
Es ist dieses Bild einer nicht nur paradoxalen, sondern geradezu infernalischen Kommunikation der Ereignisse und ihrer in alle Richtungen hin sich verästelnden Serien, das sich dem Betrachter von Gus van Sants ELEPHANT unwiderstehlich aufdrängt. Der Terrorakt, in dem zwei Schüler einer High School unterschiedslos Mitschüler und Lehrer niederstrecken, wird weder psychologisch noch soziologisch motiviert. Der Film enthält sich jeglichen Hinweises auf einen etwaigen Generationenkonflikt, auf die Unbillen der Adoleszenz; kaum je sieht man das Sternenbanner, was umso erstaunlicher ist, wenn man berücksichtigt, mit welcher Penetranz dieses in amerikanischen Schulen exhibiert wird und noch den unbedeutendsten Winkel in einen politisch markierten Raum transformiert. Der Serienmord geschieht einfach nur, ohne allen Affekt, ohne jegliche 'rassische', religiöse oder politische Kodifikation, ohne zureichenden Grund. Er ist das Ereignis, kraft dessen die zerstreuten Serien von Schritten und Gesten, Blicken und Sätzen – Elementen, die so unbedeutend sind, daß sie sich kaum je zu einer Szene, geschweige denn zu einer Intrige zusammenschließen – sich kreuzen; kraft dessen das, was an den Körpern eines beliebigen Ensembles von Schülern einer beliebigen High School Tag für Tag geschieht, einen Augenblick lang in einem tödlichen Ereignis widerhallt.
Es bedarf einer gewissen Askese, einer Entfettung des Filmbilds, um diesen Nexus, der mehr als bloß eine Koinzidenz ist, inmitten der Gleichgültigkeit und Unverbundenheit all dessen, was geschieht, in seiner Unausweichlichkeit hervortreten zu lassen. Es bedarf vorallem einer äußersten Empfindlichkeit für die räumlichen Gegebenheiten, welche die Bewegungen der Körper determinieren, und es bedarf der Suspension der subjektiven, der Erlebniszeit, damit das Ereignis in die Welt einbrechen, die Gegenwart zerreißen und in eine unendliche Dauer verwandeln kann. Es bedarf einer ebenso strengen wie unauffälligen Architektur: ELEPHANT verwandelt die Schule in eine Art Labyrinth, das weder Zentrum noch Peripherie kennt, das kein Außen hat und für das Sportplatz, Straße, privater Wohnraum ebensoviele Fortsätze sind; in ein Labyrinth unabsehbarer Gänge, die von den Körpern mit Gleichmut abgeschritten werden, und unverbundener Räume, in denen sie verschwinden, auftauchen und wieder verschwinden. Und es bedarf einer Zeitlichkeit, in der die Augenblicke ununterscheidbar werden, sich überlagern und der Betracher die Übersicht darüber verliert, was zuvor und danach, was schon und noch nicht geschehen ist.
Es ist diese Formalisierung des Filmbilds, die erlaubt, alles Anekdotische auszustreichen, alle Kausalitäten zu kappen und alle Erklärungsversuche zunichte zu machen.1 Kaum je hat es seit Kubricks FULL METALL JACKET im amerikanischen Kino den Versuch gegeben, mit solcher Konsequenz und Präzision eine spezifisch filmische Raumzeit zu schaffen, nicht um ästhetische Wirkungen zu erzielen, sondern um eines Erkenntniseffekts willen, der dadurch zustande kommt, daß die Narration gleichsam parametrisiert wird. Aber während Kubrick eine strenge räumliche Ordnung und zeitliche Rhythmik erschafft, um die ungeschmälerte physische Gewalt zu zeigen, die bei der behavioristischen Abrichtung von Soldatenkörpern so unerbittlich freigesetzt wird, daß die Ermordung des Kommandanten, der Selbstmord des schwarzen Marine und die blindwütige Gewalt im Dschungel von Vietnam geradezu deduziert werden können, ist in ELEPHANT jegliches Kommando, durch das ein Körper in eine Tötungsmaschine verwandelt wird, jeglicher Stoß, durch den ein Körper auf einen anderen Körper wirken könnte, wie eliminiert. Die Körper berühren einander nicht – deswegen schreiten sie immer wieder, gleichsam einander ausweichend, Korridore und Diagonalen ab. Und die beiläufig hingesprochenen Sätze, die sie wechseln, sind ohne alle Emphase, Gemurmel inmitten des Rauschens.
Welches ist also das Dispostiv der Macht, das ELEPHANT exponiert? Denn ein Dispositiv der Macht muß im Spiel sein, wenn der Anschlag in einem so eminent politischen Raum wie der Schule plaziert wird. Allein, es ist ein ebenso verwirrendes wie bestürzendes Dispositiv, und dies nicht zuletzt darum, weil das Szenario sich aller "Erklärung" enthält, jedenfalls aller Erklärung im herkömmlichen Sinn. Man darf sich dabei nicht von der Nazipropaganda beirren lassen, die den beiden Attentätern am Bildschirm zuflimmert – im übrigen der einzige faux-pas des Films. Weiter führt die Beobachtung, daß in ELEPHANT keine einzige Massenszene, kein Fußballspiel vor kreischenden Fans, kein Aufmarsch von Majorettes und Unterrichtsszenen nur am Rande gezeigt werden. Fast möchte man glauben, daß man sich nicht in einer Schule befindet, daß die Divergenz der Ereignisse, die ELEPHANT dartut, an einem beliebigen Ort, überall und nirgendwo stattfindet. Einem Ort, der gleichwohl vom ersten bis zum letzten Bild öffentlich ist und in dem jegliche Intimität von dieser Öffentlichkeit affiziert ist.
Wagen wir eine Hypothese. Foucault hat in Überwachen und Strafen das Panopticon und dessen Formel: sehen ohne gesehen zu werden, als eine Existenzfunktion der modernen, disziplinären Macht bestimmt. Es veranlaßt, daß die Körper in ein allgemeines Sichtbarkeitsfeld gerückt werden, und zwar so, daß sie zugleich isoliert – im Falle des Gefängnisses durch die Einsperrung in Zellen – und durch den unsichtbaren Blick, der dieses Feld durchquert, beobachtet und individualisiert werden. Das Panopticon instauriert dergestalt eine fundamentale Assymetrie: während es die Körper sichtbar werden läßt und der Macht ausliefert, entkörpert es die Macht und läßt sie unsichtbar werden, so sehr, daß ihre Stelle zuletzt von jedermann, sozusagen demokratisch, eingenommen werden kann. Foucault spricht vom "anonymen Band der Macht, die sich fortwährend entrollt und im Spiel dieser Unsichtbarkeit ausgeübt wird". Man muß sich jedoch hüten, das Panopticon mit dem Gefängnis oder mit den Formen der disziplinären, institutionellen Einschließung zu identifizieren. Die Kontrollgesellschaft kennt keine Mauern, sondern setzt sich auf dem Wege über die Fraktalisierung der Architekturen durch. Letztere läßt die Grenze zwischen innen und auße, öffentlich und privat durchlässig wenn nicht unbestimmbar werden, so jedoch, daß diejenigen, die diese porösen Architekturen bevölkern, sichtbar und zu Objekten der Macht werden.
Man weiß, Foucault interessiert sich für die Individualisierung der Körper und Aufzeichnungssysteme, die im Verein mit ihr ausgebildet werden, vornehmlich als Bedingung für die Konstitution des modernen humanwissenschafltichen Wissens. Wenn das Panopticon für die Erhellung des Szenarios von ELEPHANT gleichwohl aufschlußreich ist, so darum, weil es ein politisches Dispositiv darstellt, das auf der strukturellen Unsichtbarkeit der Macht und der unwiderruflichen Besetzung und Individualisierung der Körper der Machtunterworfenen beruht. Bezogen auf ELEPHANT bedeutet dies zunächst: Weil das Panopticon funktionell und immanent ist – dies meinte Foucault, als er von einer Mikrophysik der Macht sprach –, bedarf es keiner psychologischen oder soziologischen, "transzendenten" Erklärung, um ihre Wirksamkeit darzutun. Um zu zeigen, wie die Macht operiert, muß man zeigen, wie sie Bewegungen, Blicke und Gesten in Beschlag nimmt, dergestalt, daß die Körper, hic et nunc und in den unscheinbarsten, alltäglichsten Verrichtungen, zu ihren flüssigen Kristallen werden. Durch die strikte Formalisierung der räumlichen und zeitlichen Parameter in ELEPHANT wird eben diese Besetzung der Körper durch die Macht sichtbar gemacht und die Schule, wie Deleuze sagen würde, in eine abstrakte Maschine verwandelt.
Indes darf man die Körper und ihre Bewegungen nicht mit den Ereignissen verwechseln. Wenn es zutrifft, daß deren Verkettung, anders als das Spiel der Kugeln beim Billard, nicht nach den physischen Gesetzen von Druck und Stoß, erfolgt, dann muß es in ELEPHANT überdies eine Dimension geben, die weniger auf die Physik der Körper als auf das Ereignis, d.h. auf das, was an den Körpern geschieht, verweist. Eine Dimension, in der es weniger um Sachverhalte geht als um eine gleichsam optische Fokalisierung, um das, was zwischen den Körpern geschieht. Diese Fokalisierung, die dem Ereignis gleichsam in seiner Latenz auflauert, geschieht in ELEPHANT durch das fahle, mitunter in ein schwärzliches Grün hinüberspielende Licht, das durchweg indirekt einfällt; durch die markierte Präsenz der Kamera, welche den Körpern zwar nie zu nahe tritt, ihren Bewegungen jedoch mit einer Beharrlichkeit folgt, die keine Unterbrechung duldet; schließlich durch die rückhaltlose Präzision des Filmbilds, das an signifikanten Stellen gleichwohl plötzlich abbricht und verschwimmt. Die Körper und der Raum, durch den die Körper voneinander getrennt sind, werden so in ein Fluidum getraucht, in dem alles was geschieht, auf eigentümliche Weise vergleichgültigt und doch zugleich in einen unabgesetzten Spannungszustand versetzt ist. In ihm zirkuliert jener aleatorische Punkt, entzündet sich jener Kontakt, in dem sich die divergenten, inkompatiblen Serien für einen Augenblick – den des Ereignisses – kreuzen.
Es geht in ELEPHANT freilich nicht nur darum, daß die Körper, Objekte einer unsichtbaren, immateriellen Macht, in der Kommunikation der Ereignisse sich einen Augenblick -lang – dem des Todes – berühren. Vielmehr geschieht in dieser Kommunikation etwas, was in Foucaults Formel des Panopticon: sehen ohne gesehen zu werden, vielleicht zwar nicht vorgesehen war, aber ihr auch nicht widerspricht. Denn in dem Augenblick, in dem die Serien ineinander widerzuhallen beginnen, kippt diese Formel gleichsam um. Die Besetzung der individualisierten Körper durch die Macht der abstrakten Maschine erreicht den Punkt, an dem zwei von der Macht besetzte Körper – die der jugendlichen Attentäter – deflagrieren und andere Körper in diese Deflagration hineinreißen, ohne daß die Macht einzugreifen hätte oder sich als solche zu erkennen geben müßte. Nichts geschieht, um das Massaker zu begrenzen, kein Polizeikonvoi fährt vor, um – sei es auch nur symbolisch – das Recht wiederherzustellen. Im Gegenteil, die Formel des Panopticon bleibt von der Deflagration wie unberührt, keine Genealogie, keine darstellbare Kausalität führt von der Tat auf die Macht zurück.
Man hat sich indes zu fragen, ob die Wirksamkeit des Panopticon nur, wie Foucault meinte, auf der Produktion eines Wissens über die individualisierten Körper beruht, oder ob sie nicht in dieser Deflagration selbst besteht, wie beunruhigend und unerklärlich diese auch immer sein mag. Mit anderen Worten: Gus van Sants ELEPHANT fordert den Betrachter auf, zu prüfen, ob die Positivität der Kontrollgesellschaft in der kontinuierlichen Ausübung der Kontrolle oder in deren punktuellem Zusammenbruch besteht. Mehr noch, er mutet dem Betrachter zu, sich jener ungemütlichen Sphäre zu nähern, wo diese Alternative selber unentscheidbar zu werden droht, wo es keine faßbare Wahrheit mehr gibt, sondern lediglich das Zugleich von Ungreifbarkeit und Unausweichlichkeit der Wahrheit. Vielleicht ist, um ein Wort Ingeborg Bachmanns abzuwandeln, in einer nach-leibnizianischen Welt dem Menschen nicht länger die Wahrheit zumutbar, sondern vielmehr gerade deren Unentscheidbarkeit-– die, nebenbei gesagt, nichts anderes ist als das Intervall, dem die Fälschungen und Trugbilder entspringen. Daß die Ereignisserien, denen die Körper ausgesetzt sind, nicht konvergieren, sondern gerade vermöge ihrer Divergenz miteinander kommunizieren und ineinander widerhallen: das scheint das Faktum der Kontrollgesellschaft zu sein. Wie hätte eine Politik auszusehen, die auf der Höhe dieses Ereignis wäre?