Impressionen aus hellen und dunklen Kinosälen
Wenn dem Raum eine Zeit innewohnt, so zeichnet sich diese immer schon durch Vielschichtigkeit aus: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Ausgehend von der Architektur des Kinos Pupille in Frankfurt am Main, über die hohen Decken, die Bestuhlung hinweg, die an eine Schulaula erinnert, erschließen sich weitere Räume. Manche physisch und haptisch andere entstehen mehr in Gedanken und Gesprächen, wieder andere im Zusammenspiel des audiovisuellen Ausdruckes von Erfahrung durch Erfahrung, im Zwischenraum von Filmkörpern und Zuschauendenkörpern.1
Die Frage nach dem Filmraum in seiner Materialität – Film, gespeichert auf alten Zelluloid-Bändern, in Kisten vergraben, in Archiven verstaubt – ließe sich als Angelpunkt der "Frankfurter Frauen Film Tage" Remake verstehen. Zum ersten Mal fanden sie im November 2018 statt. Warum ein weiteres Frauen*filmfestival hier in Frankfurt am Main, im Jahr 2018? Welcher Raum ist vonnöten? Welcher immer noch nicht als selbstverständlich angesehen? Angebunden an die Kinothek Asta Nielsen e.V. und die Goethe Universität Frankfurt am Main als Institutionen, zeigt die explizite Betitelung von Remake als "Frauen Film Tage" die strukturelle Notwendigkeit akademischer, archivarischer und kuratorischer Praktiken für eine Differenzierung von Filmgeschichte und dem, was als 'Klassischer Kanon' betitelt wird. Das Festival wurde von Studierenden mitinitiiert, denen die Unterrepräsentation von Filmen, die sie als spezifisch von Frauen{*} produzierte ausmachten, fragwürdig schien.
Es zeigt, welcher Raum selbst im Jahr 2018 dringend erforderlich ist, welcher noch immer nicht als selbstverständlich angesehen wird. Und zugleich muss gefragt werden, welcher Raum verweigert wird, wenn das Sternchen * im Namen des Festivals fehlt. Das Kino Pupille mutet in diesem Moment widersprüchlich an, emanzipatorisch und konservativ zugleich, so wie ein Kinosaal befremdlich erscheint, wenn er hell erleuchtet ist.
Die Widersprüchlichkeit eines ausgeleuchteten Kinosaals lässt sich unter Umständen als Faszination ausmachen. Wir erlebten es während einer Projektion CYANKALI (R: Hans Tintner, D 1930). Das Zelluloid hatte sich verhangen. Das Licht im Saal ging an. Eine Drehung von der Leinwand weg, hin zum Projektor. Wir sehen, wie das Zelluloid eingelegt wird. Der Raum wird dunkel und dann, der Körper hatte sich nicht schnell genug zurück zur Leinwand gedreht, blickten die Augen in die Helligkeit des Projektors. Ein Lichtstrahl im Dunkeln, der Kinoraum ästhetisiert. Die Drehung wird für mich zur Metapher für die Ein- und Ausschlussmomente des Festivals. Ist nicht immer ein anderer Blick möglich? Kann sich der Raum zwischen Filmkörper und Zuschauendenkörper nicht auch um sich selbst schlingen? Umgedreht, invertiert, oder sich gar aus allen Fugen bewegen? So wie sich der Körper, der jetzt zum Projektor blickt, umgedreht hat? Bedarf es denn eigentlich dieser weiteren Drehung? Ist nicht Filmraum und Zwischenraum genug? Ein Zurückerinnern an den Untertitel des Festivals: "Frauen Film Tage". Die Signatur des Festivals scheint bestimmt. Aber liegt nicht gerade im Moment dieser Bestimmung die Möglichkeit der Gegenzeichnung?2 Die Signatur wäre dann latente Ermöglichung ständig neuer Intervention, die schon im Text vorhanden ist.3 Der Zwischenraum zwischen Filmkörper und Zuschauendenkörper wäre schon Vermengung, von Vielfältigem gespeist. Wer wird explizit herausgestrichen, wenn das * nicht im Titel erscheint? Was bleibt unbenannt, zwar als potenzielle Gegenzeichnung vorhanden, aber ohne Symbol? Unabhängig von abstrakten Überlegungen ist sowohl unter repräsentationspolitischen als auch sozio-kulturellen und filmhistorischen Aspekten die Auslegung eines Festivals auf die Kategorie 'Frau' von äußerster Wichtigkeit. Aber wird nicht gerade das emanzipatorische Moment des Einnehmens von Raum und des (Wieder)eintritts in den Diskurs erschwert, wenn im selben Moment die kulturelle und historische Dimensionen dieser Kategorie alleinig betont und ihre möglichen Transformationen im Gegenwärtigen und in den Möglichkeiten der Zukunft herausgestrichen wird?
Jetzt wieder eine Drehung hin zur Leinwand, zum Klavier, die Stimmen der Figuren auf der Leinwand bleiben stumm. CYANKALI. Zum Ende des Films ertönen für einen Moment laut und deutlich Stimmen und die Audiospur ist im Bild zu sehen. Lichtton. Wieder eine neue Drehung. Der Bildraum nun auch Tonraum, der Stummfilm wird zum Talkie, der Filmraum mehreren Epochen zugehörig, nebeneinander, die Zeit, wie sie jetzt im Raum steht, ist vielschichtig. Welche Potenzialität öffnet diese Gleichzeitigkeit technischer Errungenschaften?
Ein Raum wie das Kino Pupille in Frankfurt zeichnet sich dadurch aus, dass er die Gleichzeitigkeit von Präsentem, Geschichtlichem und Zukünftigem auf der Ebene von Wahrnehmungsdispositiven von Subjektivitäten und ihren verkörperlichten Interaktionen ermöglicht. Diese Gleichzeitigkeit ist von größter Bedeutung, stellt sie doch ein Nebeneinander von Körpern, Wahrnehmungen und Bedeutungsproduktionen her, die in ihrer Pluralität auf die Möglichkeiten von Transformationen im Prozess verweisen (Vgl. Kosofsky Sedgwick 2003). Wird dieser Raum benannt, wie im Falle von Remake und als "Frauen Film Tage" kontextualisiert, dann wird eine spezifische, auf den ersten Blick ausschließende Übereinstimmung von Bedeutung produziert, dann wird die Signatur und Gegenzeichnung auf eine Bedeutungsübereinstimmung verkürzt und der emanzipatorische Akt für die Situation 'Frau*' auf ein historisches Verständnis beschränkt, welches ein Neulesen der Texte, der Filme erschwert und eine Stagnation eben jenes emanzipatorischen Prozesses bedeutet.4 Aber schon löst es sich wieder auf. Die Gegenzeichnung lässt sich nicht einfangen und brav auf eine Bedeutung festzurren.
Und so sind auch wir aufgebrochen, vier Studierende aus Berlin, ein weiterer Raum, der sich aufschichtet, diesmal der der Freien Universität, weil auch unsere Vergangenheit in verstaubten Archiven vergessen wurde, bis jemand sie wiederfand. Und auch wir standen in Archiven und haben gesucht und gleichzeitig haben wir diese Menschen, die vor uns gesucht haben, gesucht. Die, die jetzt auch in Frankfurt anwesend sind. Die große Menge an Studierenden und Lehrenden der Universität Frankfurt sowie die Kuratierenden, Heide Schlüpmann, Gaby Babić und Karola Gramann. Und diese haben vor uns nach anderen gesucht. Und wieder vervielfacht sich der Raum und legen sich Zeit und Orte übereinander. Manchmal scheint es dann so, als widersprächen sie sich. Aber ist dem wirklich so?
Wer es aushalten kann einen Raum zuzulassen, der historisch ist oder war, und wer versteht, dass diese Historizität konstituierend ist für die Gegenwart, wird im Archiv nicht Verstaubtes, Vergessenes und Totes sehen, sondern die Möglichkeit Zukünftiges zu denken. Wer wahrnimmt, dass die Vergangenheit zugleich durch die Linse der Gegenwart gesehen wird, begreift, dass im Moment nur ein Ausschnitt sichtbar ist – so wie eine Kamera nur einen Ausschnitt einfängt und diesen ästhetisiert. Wer versteht, dass die Kadrierung zugleich auf alles außerhalb ihrer verweist, auf das Mehr, das es da gibt, ein Auffalten von Möglichkeiten, und dass das Wiederfinden von Vergangenem die Zukunft beeinflusst, mag die Bedeutung historischer Dokumente für die Zukunft begreifen. Und wer die Vielschichtigkeit eines Raumes, eines Filmraumes, eines Denkraumes, eines Diskurses zulässt, diese Person lässt auch die Vielfältigkeit der Möglichkeiten in Zukunft zu, ein leichtes Verschieben des Blickwinkels, eine Neukadrierung.
Die Filme zur Schwangerschaft, welche am achten Tag von Remake liefen, sind von enormer Wichtigkeit. Die Benennung der Kategorie 'Frau*' bezüglich Produktion, Archivarbeit und Kuration der Filme ebenfalls. Jedoch kann es nicht dabei bleiben. Denn der Körper kann dieses Wort sein, Frau*. Mit dem Sternchen und ohne. Derselbe Körper kann zugleich auch weder noch sein. Ein völlig anderer Körper ist nicht anders, wird nur so konstruiert, kann diese Kategorie auch sein, muss sie nicht sein, es dreht sich. Die Fähigkeit zu gebären macht keine Frau aus. Aber es ist ein Schicksal, welches viele betrifft, die sich nach dieser Kategorie definieren. Die Pluralität im Nebeneinander zulassen, wie eine Vielzahl von Kadrierungen in Parrallelmontagen, nebeneinander, oder wie ein Festivalprogramm mit Filmen nebeneinander, im selben Raum, das öffnet den Raum. In der Vergangenheit wurde dieser Körper so verhandelt. Das macht die Fähigkeit zu gebären jedoch nicht zu einer ontologischen Eigenschaft der Kategorie 'Frau*'. Und wenn jetzt ein phänomenologisch als ähnlich wahrgenommener Körper, im Sinne institutionalisierter hegemonialer Bedeutungsproduktionen, im Jahr 2018, in diesem Raum, in der Pupille in Frankfurt sitzt und auf die Leinwand blickt, kann im Moment der Rezeption eine andere Möglichkeit eröffnet werden. Und die scheinbar wahrgenommene Ähnlichkeit der Körper spielt keine Rolle. Identität, als etwas, das ausgehandelt wird (Mayne 1997: 181). Ständig aufs Neue. Wenn ein Frame auf den anderen folgt, wird in der Bewegung eine Potenzialität von Möglichkeiten erfahrbar. Das ist politisch. Die Signatur des Texts und die Gegenzeichnung der zuschauenden Person(en). Neu gelesen, neu geschrieben. Frau*, Nicht-Frau*. Feministisch oder patriarchal. Und alles neben diesen Kategorien. Kein Text kann jemals einheitlich klassifiziert werden. Kein Körper wird jemals einheitlich klassifiziert.
Was uns alle in diesem Moment, in diesem Raum, Frankfurt 2018 vereint, ist das (Wieder)finden von Texten der Vergangenheit, die in ihrem Wiedereintritt in den Diskurs ein Imaginieren von differenten Zukünften ermöglichen. Diese möglichen Ausgänge der Geschichte ereignen sich in der Vergangenheit. Aber die Vergangenheit findet zugleich im Jetzt statt. In einem Raum, nebeneinander. Ob dunkel oder hell erleuchtet. Zur Leinwand oder zum Projektor gedreht. Keiner Richtung die Bedeutung des ursprüngliches Sinns gegeben, keine Richtung wahrer als die andere. Der Raum, das Kino schon lange keine Höhle mehr. War nie eine. Mein Körper verhält sich zu anderen. Im Raum und in der Aufschichtung der Zeit wird ein Nebeneinander möglich, dass die Potenziale der Zukunft als schon da gewesen definiert. Es wird Zeit sie zu sehen. Ihnen Raum zu geben.
Derrida, Jaques. Signatur Ereignis Kontext. In: Derrida, Jaques. Die différence. Ausgewählte Texte. Reclam. 2017.
Derrida, Jaques. In: Brunette, Peter.Willis, David.: The Spartial Arts: An Interview with Jaques Derrida, In: Brunette, Peters. Wills, David. (Hg): Deconstruction and the Visual Arts.Cambridge: University Press 1994.
Kosofsk Sedgwick, Eve. Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Duke University Press. Durham/ London: 2003.
Mayne, Judith. Paradoxes of Spectatorship. In: Williams, Linda {Hg}. Viewing Positions. Ways of Seeing Film. Rutgers University Press. 1997.
Sobchak, Vivian. The Adress of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton University Press. 1992.