Zur 33. Duisburger Filmwoche 2009
In einer Zeit, in der, wie Hito Steyerl schreibt, der Zusammenhang der Bilder mit den Dingen fragwürdig geworden ist und das Dokumentarische unter Generalverdacht steht (Steyerl 2009, 15), gerät gerade der Dokumentarfilm ins Zentrum der Debatte darüber, wie sich eine visualisierte Kultur über Repräsentationen ihrer eigenen Wirklichkeit versichern kann. Mit dem Motto „Erkenne die Lage“ erweiterte die Duisburger Filmwoche 2009 einmal mehr die Fragestellung über das dokumentarische Filmbild in Richtung der Zusammenhänge von Geschichte, Erinnerung, Erfahrung, Politik und der spezifischen filmischen Materialität des Dokumentarischen – Zusammenhänge, die sich um den aktuellen kulturellen „Ort“ des Dokumentarfilms zu drehen scheinen.
Wie ist nun aber die Lage, die zu erkennen das Motto des diesjährigen Festivals auffordert? In seinem bald zehn Jahre alten Buch „Krise der Politik“ kennzeichnet Zygmunt Bauman diese Lage vor allem durch Begriffe wie Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit, Ungeschütztheit (Baumann 2000, 29f.). Es sei immer weniger nachvollziehbar, welche Entscheidungsinstanzen für diesen Verlust an planbarer – beruflicher wie privater – Zukunft verantwortlich gemacht werden können. Die Politik schiebe die Verantwortung auf die Ökonomie ab, die sich ihrerseits beschwert, dass die Politik die schrankenlose Zirkulation von Geld und Produktivität verhindere, und deswegen für die Nachteile verantwortlich wäre, unter denen wir zu leiden haben. Zusammenhängende bzw. als zusammenhängend erfahrbare, kausale oder zumindest plausible Szenarien sowohl für die Ausübung von Macht als auch für die Etablierung von (widerständigen) Handlungsfähigkeiten seien kaum auszumachen. Wogegen sich wenden, wen durch Proteste adressieren? Welche Gemeinsamkeiten können überhaupt noch Gemeinschaften herstellen? In der Zukunft warten bloß neue Bruchstücke eines neuen Lifestyles, ein Desaster, das deinen Namen trägt, wie es Brian Massumi formuliert hat. (Massumi 1997, 64)
Wie die „vermischten Meldungen“ des Fernsehens – die Bourdieu in seinem Buch „Über das Fernsehen“ 1998 so nachhaltig kritisiert hat –, die politische Leere produzieren und die Welt auf Anekdoten, Klatsch und Katastrophen reduzieren (Bourdieu 1998, 73), welche ohne Sinn und Geschichte aufeinander folgen, reduziert sich unser hyper-individualisiertes Leben möglicherweise ebenso um vorübergehende Fragmente und Intensitäten, denen eine gemeinsame Geschichte abhanden zu kommen droht. Unsere Biografien verwandeln sich in eine diskontinuierliche Abfolge von Momentaufnahmen, deren Verbindlichkeit fragwürdig ist, und die vor allem eines nicht mehr herzustellen ermöglichen: kollektivierbare Identitäten. „Noch schlimmer: es gibt sogar kein 'wir' mehr. Es zerfiel schon längst in eine Fülle fragmentarischer sozialer Identitäten, die keine ideologische Anrufung und keine kollektive Aktion zu einem einheitlichen Subjekt der Weltveränderung machen könnte.“ (Buden 2002, 1)
Die Aufgabe, die laut Bourdieu die Soziologie in diesem Zusammenhang hätte, bestünde gerade darin, entgegen diesem enthistorisierenden und enthistorisierten Mechanismus, der aus der Geschichte eine absurde Serie von unverständlichen und unbeeinflussbaren Desastern macht, das Gewöhnliche ungewohnt zu machen, es so zu schildern, dass sichtbar wird, wie außergewöhnlich es ist (Bourdieu 1998, 27) – und vor allem, mit welchen Geschichte/n dieses Gewöhnliche verwoben ist, in welche Zusammenhänge es gestellt ist und welche Zusammenhänge es herstellt. Damit meint Bourdieu aber keine privatistische Mikropolitik des Alltags, keine Affirmation von Privatheit oder gar Cocooning, sondern eine Methodologie, um „das Alltägliche aus seiner Selbstverständlichkeit herauszureißen“, „um die Macht der Spuren einer gemeinsamen Geschichte heraufzubeschwören“, die das Alltägliche in sich birgt (Rancière 2006, 62).
Könnte der Dokumentarfilm mit einer solchen Rekonstruktion von gemeinsamen Geschichten, von Geschichten möglicher Gemeinsamkeiten, gerade die Leerstellen füllen, die Fernsehen und Kino im Rahmen dieser Fragestellungen offenlassen? Könnten diese Leerstellen Raum und Herausforderung für genuin dokumentarisches Arbeiten bieten, wie es der Festivalleiter Werner Ružićka im Katalog formuliert?
Rekapituliert man einen Film wie Nikolas Geyerhalters 7915 KM (A 2008) unter dieser Perspektive, dann erscheinen die Erzählungen, die der Regisseur in Dörfern und Städten in Marokko, der Republik Sahara, Mauretanien, Mali und dem Senegal entlang der Route der Ralley „Paris – Dakar“ „einfängt“, nicht mehr nur als zerstreute und relativ willkürlich aufeinander bezogene Geschichten über Migration, Armut, die Auflösung sozialen Zusammenhalts und Grenzkonflikte, die unser Afrika-Bild prägen. Die Montage dieser Geschichten könnte dann auch als eine Art Rekonstruktion von Wirklichkeiten gelesen werden, die durch Globalisierung, Flexibilisierung und „den Markt“ zu verschwinden drohen. Schließlich ist es der Film und nicht die Route der Ralley – die nicht viel mehr als eine spektakuläre neo-koloniale Vermessung Afrikas darstellt, einen geradezu fiktionalen und fiktionalisierten Raum, der durchmessen, überwunden, gemeistert wird –, der diese Geschichten aufeinander bezieht und in eine, wenn nicht gemeinsame so doch zusammenhängende Geschichte überführt.
War das Programm des Festivals im Jahr 2009 sozusagen „naturgemäß“ vom Jubiläum des Mauerfalls gekennzeichnet (u. a. durch Filme wie Gerd Kroskes SCHRANKEN, D 2009, Claudia Lehmanns HANS IM GLÜCK, D 2009, Maik Bialiks DIE MAßNAHME, D 2009, vor allem aber Thomas Heises MATERIAL, D 2009), so zeichnete sich auch in diesen thematisch auf die Wiedervereinigung oder ihre Konsequenzen bezogenen Filmen teilweise dieses Interesse an Geschichte/n ab – nicht, um sie konkret oder wirklich werden zu lassen, sie aufzuzeichnen, nachzuerzählen und dadurch zu „retten“. Es scheint, als müssten die Zusammenhänge wieder aufgefunden werden, die durch eine Politik der alltäglichen Angst zerstreut wurden und die so etwas wie eine kohärente Vorstellung von uns selbst als soziales Individuum möglich machten, das von den „anderen“ nicht durch Bedrohung, Konkurrenz oder kulturelle Differenz getrennt ist, sondern sich einen gemeinsamen Raum mit den anderen teilt, ein Raum, in dem eine gemeinsame Geschichte denkbar wird.
Thomas Heises Film MATERIAL kann auch als Rekonstruktion jener besonderen Momente der letzten Tage der DDR im Jahr 1989 gelesen werden, in denen sich (zum letzten Mal?) eine Gemeinschaft einen politisierten Raum geteilt hat und dadurch den Raum einer (möglichen, denkbaren, erlebten) gemeinsamen Geschichte herstellte. Rancière spricht davon, dass die Kunst in die Welt eingreifen soll, und dadurch „den ihr zugewiesenen Orten gänzlich entkommt oder, umgekehrt, die Welt an diese Orte holt“ (Rancière 2006, 94). Muss der Dokumentarfilm „die Welt an seinen Ort holen“, weil diese in den vielfältigen visuellen Medien der Gegenwart keinen Ort mehr findet? Und entkommt der Film nicht dann den ihm zugewiesenen Orten, wenn sich Thomas Heise mit einem Transparent ans Rednerpult bindet und quasi unaufhörlich die „Gesichter des Volks“ dreht? Dadurch entsteht kein filmischer Voyeurismus, wird keine Authentizität herbeigefilmt, sondern ein Blickverhältnis installiert, ein Blick/Bildraum, der Raum gibt für Ereignisse. „(...) dann liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte“ (O-Ton im Film).
SHANGHAI FICTION von Julia Albrecht und Busso von Müller (D 2009) führt die Geschichten von vier gegensätzlichen „Protagonisten“ in der chinesischen Millionenmetropole zusammen: der Wanderarbeiter, der Urban Developer aus Deutschland, der Politologe und die erfolgreiche Geschäftsfrau der „neuen Ordnung“. Der Film zeigt, wie diese „Figuren“ durch die „neue Ordnung“ geradezu ineinander gefügt werden, wie sich ihre Leben in einem politischen Raum überkreuzen. Ernesto Laclau spricht von Politik als einer verräumlichenden Praxis, also einer Praxis, die Räume herstellt, ermöglicht, zuweist und zu fixieren versucht. Die ewig gleichen Wege des Wanderarbeiters zu und von einem billigen Imbiss, das Verharren mit seinem Freund in der gemeinsamen Absteige, das Rauchen, das Fernsehen, das Warten auf Arbeit, das Nicht-bezahlt-Werden, das Nach-Hause-Zurückkehren-und-Wiederkommen – der Film zeichnet diese Politik der Verräumlichung nach, die die Protagonisten im Stadtraum von Shangahi verteilt und sorgfältig voneinander fern hält. Im realen Stadtraum kreuzen sich ihre Wege kaum jemals. Im politischen Raum der neuen Ordnung bleiben sie dennoch aufeinander bezogen, voneinander abhängig.
Ein kurzes – von den Regisseuren herbeigeführtes – Gespräch zwischen dem Urbanisten und dem Politologen findet im Restaurant eines Hochhauses statt, mit Blick über die Skyline der Stadt: ein Blick, ein Raumverhältnis, das für den Wanderarbeiter unerreichbar ist und das einer „Fiktion des Wissens“ entspricht, die Michel de Certeau kritisiert, wenn er über den Ausblick über New York vom Dach des World Trade Center aus sinniert (de Certeau 1998, 179). Die Geschichte des Wanderarbeiters wird also durch die Raum-Praxis des Urbanisten vollständig fiktionalisiert und de-realisiert, zu einem abstrakten Faktor des wirtschaftlichen Aufschwungs der „neuen Ordnung“ – erst der Film führt seine Geschichte als Geschichte wieder ein, die einen eigenen Raum durchmisst, den der Urbanist gar nicht erkennen kann und will.
Was erzählen uns also die Erkundungen über Mitglieder der chinesischen Community in Bukarest, wie in Katharina Coponys OCEANUL MARE (A 2009)? Vor allem von den migratorischen Phänomenen des globalisierten Handels? Repräsentieren sie eine kuriose Diaspora, die diese Community über die halbe Welt geführt hat? Wirtschaftsflüchtlinge? Oder aber bietet der Film nicht auch die Möglichkeit, durch diesen Blick auf eine Minderheit generell darüber zu reflektieren, wie es mit dem sozialen Zusammenhang, mit Gemeinschaft heute bestellt ist? Der Versuch, die Interessen einiger chinesischer Einzelhändler gegen den Abriss ihres Marktes (politisch) zu mobilisieren, zeigt sich unter dieser Perspektive als exemplarisches Begehren am Herstellen eines gemeinsamen Bezugssystems, eines gemeinsamen Handlungsraumes, mithin einer gemeinsamen Geschichte. Auch in OCEANUL MARE sind es die Wege des Protagonisten, die einen Raum herstellen (nicht bloß eine Geografie), den sich die chinesischen Einwanderer teilen und der Stadt Bukarest einschreiben.
Immer wieder trifft man also in besagten Filmen auf dieses Phänomen eines gemeinsamen (gemeinschaftlichen) Raumes, einer möglichen gemeinsamen Geschichte. „Es scheint, als wäre nichts mehr an der Tagesordnung als ein Denken der Gemeinschaft: als sei in den Zeiten einer Krise, die das Scheitern aller Kommunismen und das Elend der neuen Individualismen einer Epoche zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt, nichts so angebracht, eingefordert, ausgerufen.“ (Esposito 2004, 7)
Der zeitgenössische Dokumentarfilm könnte also das exemplarische visuelle Feld sein, in dem das filmische Bild als eine Art Relais erkennbar wird, „das Theorien über die Kunst, die Sprache und den Geist mit sozialen, kulturellen und politischen Wertvorstellungen verbindet“ (Mitchell 2008, 11). Im Dokumentarfilm könnte also eine Bild-Politik sprichwörtlich sichtbar werden, die Sprache, Körper und Räume nicht abbildet, sondern herstellt, die Film als verräumlichende (politische) Praxis begreift, die Geschichten ihre Orte und ihre Räume weniger zuweist als dass sie Räume ermöglicht, die zu spezifischen gemeinsamen Räumen werden können.
Damit wurde Duisburg auch im Jahr 2009 erneut zum Schauplatz einer filmischen Erfahrung, die zeigt, dass sich Wirklichkeit, Politik und Geschichte möglicherweise als unvorhersehbare Effekte einstellen, die sich zwischen Film, Wissen, Alltag, Ideologie und Erleben ereignen, unvorhersehbare Effekte, die schließlich auch die BetrachterInnen der Filme mit den ProtagonistInnen und ihren Geschichten in einen gemeinsamen Raum stellen.
Die Preisträger: www.duisburger-filmwoche.de/festival09/preistraeger.html
Bauman, Zygmunt (2000): Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit. Hamburger Edition
Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Suhrkamp: Frankfurt am Main
Buden, Boris (2002): Die Kunst sich schuldig zu machen ist die Politik des Widerstands. Depolitisierende Transgression und emanzipatorische Hybridisierung. http://eipcp.net/transversal/0902/buden/de
Certeau, Michel de (1998): Die Kunst des Handelns. Merve: Berlin
Massumi, Brian (1997): Everywhere you want to be. Einführung in die Angst. In: Eiblmayr, Silvia (Hg.): Zonen der Ver-Störung. steirischer herbst: Graz
Esposito, Roberto (2004): Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. diaphanes: Zürich
Mitchell, W.J.T. (2008): Bildtheorie. Suhrkamp: Frankfurt am Main
Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. b_books: Berlin
Steyerl, Hito (2009): Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Turia + Kant: Wien