Ausverkaufter Kinosaal – ca. 300 Sitze. Herabgesenkter Altersdurchschnitt – ca. 25 Jahre. Reichweite des Protagonisten – ca. 110K Abonnenten auf Instagram. Zahlen dominieren die Premiere von Pablo Ben-Yakovs Film LORD OF THE TOYS (D 2018) beim DOK Leipzig und man brüstet sich mit ihnen. Auf dem Kanal des Protagonisten heißt es über einem Foto aus der hintersten Reihe: „Die Premiere von @lordofthetoys_derfilm war mächtig, danke an jeden Einzelnen der den Saal bis an seine Kapazitätsgrenze brachte!“ Alle eifern nach dem Massenspektakel. Vorab und danach gab es viel Protest, wie schon letztes Jahr, als das filmische Porträt von drei Pegida-Anhängern für Empörung sorgte. Diesmal kreist der Film um Max Herzberg, den Anführer einer Gruppe von Bloggern, deren Web-Inhalte neben Unboxing-Videos und ähnlichen Formaten immer wieder mit Sprüchen und Symbolen in der rechten Ecke fischen.
Wieder wird dem Film die affirmative Distanzlosigkeit, die im vergangenem Jahr bei dem Film MONTAGS IN DRESDEN (D 2017) kritisiert wurde, vorgeworfen und wieder versteckt man sich hinter dem Neutralitätsgebot künstlerischer Beobachtung – eine Rechtfertigung, die den Diskurs verfehlt. (s. Grothe 2017) Die Frage bleibt eben wie man das Beobachtete filmisch organisiert.
Das diesjährige Kernproblem bildet vielmehr das verharmlosende Narrativ, welches im Titel LORD OF THE TOYS begründet wird und den gesamten Film umspannt. Der Titel rekurriert auf William Goldings Roman Lord of the Flies, der wiederum auf das Alte Testament, wo der Herr der Fliegen als falsche Gottheit gilt, und auf den „Fliegengott“ Mephisto in Goethes Faust verweist. Der Teufel bzw. die von der falschen Gottheit evozierte Verführbarkeit des Menschen leitet auch LORD OF THE TOYS ein. Über deformierten, auf der CineStar-Leinwand zu überdimensionaler Größe erwachsenen Laptop-Bildschirmen rezitiert eine göttlich anmutende Stimme aus dem Off in digital verzerrter, verführerischer Stimmfärbung den Brief, den jeder YouTube-Blogger erhält, wenn die 100.000 Views überschritten sind. Diese Einstellung umklammert den Film und konturiert so seine Lesart. Der göttliche Segen wird mit Klick-Maximierung übersetzt und die Jungs um Max Herzberg huldigen besessen diesem Paradigma der modernen Aufmerksamkeitsökonomie.
Leider verfällt auch der Film dieser Maxime und strebt permanent nach Intensitäten. Er findet bei den Eskalationen der Abende keinen Schnitt und schlittert in der Faszination an den ausufernden Saufgelagen vorbei in die Redundanz. Zwischendrin schweben die stumpfen Chatverläufe der Protagonisten über das Isolations-Panorama, das sich in der Nacht über Dresdner Hochhäusern erstreckt und von André Krummels Kamera atmosphärisch markiert wird.
Die Grundthese ist schnell verstanden, die verlorenen Kinder aus Goldings Roman, die in einer Welt ohne Eltern oder andere Role Models auf sich allein gestellt autoritäre, gewaltdurchdrungene Systeme hervorbringen finden ihr ostdeutsches Pendant in der Gruppe um den Anführer Max Herzberg. Auch die sexistischen, antisemitischen und rassistischen Äußerungen werden demnach bloß für das Generieren von Klicks instrumentalisiert. Dann eskalieren die rassistischen Provokationen auf dem Oktoberfest und münden in körperlicher Gewalt. Herzberg drängt dazwischen und schreit lechzend nach Provokation: „We are Nazis and we are proud“. Anstatt, dass der Film hier eine Haltung zu seiner Beobachtung entwickelt, dramatisiert er mit Zwischenschnitten der wirbelnden Vergnügungsattraktionen und dem düster wabernden Score von Kat Kaufmann die in rassistische Gewalt aggregierte Situation und beutet sie dramaturgisch aus. Auch die kurzsichtigen Relativierungen solcher Aktionen werden den Zuschauenden immer wieder vor Augen geführt und der Film reproduziert unhinterfragt Herzbergs abwehrende Rhetorik. Der Freund und Protagonist Hector Panzer soll den Rassismus widersprüchlich erscheinen lassen, weswegen die Kamera wiederholt den Kontrast der Hautfarben sucht und eine Kusssequenz zwischen Herzberg und einem anderen Mann bildet die Antithese zur Schwulenfeindlichkeit. Zwischendurch werden zwei Filzstiftkritzeleien mit einem Kameraschwenk verbunden – von einem verkehrten Hakenkreuz zu #lol – rechte Symbole als Konsequenz ausufernder Albernheit. Diese erschreckend simplifizierenden Haltungen des Films haben nichts mit reiner Beobachtung zu tun, bei der die Filmcrew wie eine „Fliege an der Wand“ agiert, wie der Dokumentarfilmer Richard Leacock es einmal beschrieb. Zwar nehmen die Protagonisten die meisten Situationen sowieso selbst auf, sodass die zusätzliche Filmkamera nicht viel an der Performance ändert, aber gerade hinter diesem Aspekt sollte der Film eine Differenz zum audiovisuellen Material abbilden, die den Blick schärft, verharrt aber stattdessen streckenweise in einer Hinter-den-Kulissen-Verliebtheit, die an Tour-Blog-Formate erinnert. Philipp Bovermann von der Süddeutschen verteidigt den Film, laut ihm muss das Publikum bloß die „Zwischentöne erkennen“, denn es handele sich um einen Film, der es wagt „die Bilder für sich sprechen zu lassen“. (Bovermann 2018) Was die Bilder uns erzählen wollen ist jedoch oft zu stark am verharmlosenden Narrativ behaftet und die Zwischentöne schmiegen sich brav an diese vorgefertigte Storyline, anstatt die so oft behauptete Widersprüchlichkeit wirklich zu ergründen.
Das „herausbewegen aus dem eigenen Dunstkreis“ was die Jury-Vorsitzende Helene Hegemann betont, war sicherlich eine spannende Intention der Filmemacher, bleibt jedoch eine oberflächliche Geste, wenn mit Reproduktion und vereinfachten Konstruktionen gearbeitet wird. (Hegemann zit. nach: Wiemann 2018) Das Zeigen des Films ist noch kein Skandal, es kann ja ruhig gestritten werden und auch das von Festivalleiter Ralph Eue so bezeichnete und verteufelte „betreute Sehen“, wo kontextualisierend erklärt wird was Der III. Weg und die Identitäre Bewegung sind und warum es problematisch ist, dass die Protagonisten sich in diesen Kreisen bewegen, selbst andauernd rechtspopulistische Posts verbreiten und das alles im Film nur als Nebensatz fällt, ist nicht zwingend notwendig. Doch durch die skandalöse Verleihung der Goldenen Taube gewinnt absehbar das Festival und auch der Film an Aufmerksamkeit und schlägt damit einmal zu oft in die Kerbe des Sensationalismus. Der Trailer des Films hat bei YouTube mittlerweile ca. 230.000 Klicks. Glückwunsch?
Bovermann, Philipp (2018) Die Kunst der Zwischentöne, in: Süddeutsche Zeitung, 04.11.2018: https://www.sueddeutsche.de/kultur/dok-fest-leipzig-die-kunst-der-zwischentoene-1.4196018
Grothe, Lucas (2017) Die netten Dresdener Demonstranten, in: taz, 03.11.2017: http://www.taz.de/!5460024/
Wiemann, Mareike (2018) Umstrittener Film LORD OF THE TOYS gewinnt, auf: Deutschlandfunk, 04.11.2018: https://www.deutschlandfunk.de/dok-festival-leipzig-umstrittener-film-lord-of-the-toys.691.de.html?dram:article_id=432286