Zu Paul Schraders Regiedebüt BLUE COLLAR (USA 1978)
Ein mechanisch-blecherner Bluesrhythmus, ein metallisch-diesiger Himmel und endlose Reihen an Karosserien: Wir befinden uns in den Produktionshallen von Detroit Motorcity, schon im 19. Jahrhundert zur ‚stove capital of the world‘ getauft, Heimat des legendären Motown-Labels und Kondensationspunkt amerikanischer Klassenkämpfe bis in die Gegenwart. Schwarze und weiße Arbeiter schweißen und schrauben: hier sind die rohen Bleche der Verkleidung zu sehen, dort schwebt ein massives Fahrgestell heran, Funken umstäuben die ganze Szenerie. Die Kamera gleitet am Fließband entlang, Achsen und Motorblöcke werden angefügt. Über der sengenden Hitze, dem Lärm und der unbeirrten Betriebsamkeit thront eine gigantische Anzeige auf dem Dach des Fabrikgebäudes. Sie zählt die vom Band gelaufenen Millionen Automobile. Plötzlich Stillstand. Paul Schrader durchzieht die Eröffnungssequenz seines in Vergessenheit geratenen Regiedebüts BLUE COLLAR (USA 1978) mit Freeze Frames. Mit den Standbildern kommt nicht nur für die Dauer der Einstellung der reibungslos-fordistische Produktionsprozess zum Erliegen, auch der untermalende Blues-Soundtrack verstummt. Einzig ein entferntes Echo des Hämmerns und Walzens ebbt über die Bilder, denen im Stillstand auch die Farbe abhanden zu kommen scheint: Sie bleichen aus und werden von einer Patina überzogen. Der Lack ist ab, das ist salopp gesagt die Prämisse von BLUE COLLAR, dazu aber später mehr.
Wir lernen Jerry (Harvey Keitel), Zeke (Richard Pryor) und Smokey (Yaphet Kotto) kennen: Drei Freunde, einer weiß, zwei schwarz, alle fluchen. Über den Job, über den rassistischen Vorarbeiter, über die unfähige Gewerkschaft, die die Sorgen und Beschwerden ihrer Mitglieder auf eine tote Telefonleitung überstellt. Wie der Zuschauer bald erfährt, sind das noch die harmloseren Seiten ihrer Union. Eines Abends kommt ein studentischer Aktivist in die Stammkneipe der drei hineingeweht und stellt verdächtige Fragen über die Gewerkschaft. Die scheint nicht nur rücksichtslos, sondern gar kriminell zu sein. Das Verhältnis von amerikanischen Gewerkschaften und organisiertem Verbrechen ist in der Vergangenheit sowohl filmisch als auch theoretisch angegangen worden, mehr oder weniger prominente Beispiele sind der Brando-Klassiker ON THE WATERFRONT (USA 1954) sowie die von der Frankfurter Schule skizzierte Racket-Theorie. (Vgl. Horkheimer 1985: 187f)
Aber auch die drei Freunde führen ein Doppelleben. Ihren Familien entfliehen sie nachts, unter fadenscheinigen Ausreden trifft man sich bei Smokey, wo das hart erarbeitete Monatsgehalt in Koks und Prostituierte fließt. Im morgendlichen Delirium einer solchen Nacht fassen die drei einen Plan: einen Raubüberfall auf den Safe der Union. Schrader konzentriert sich jedoch nicht auf den Heist des Trios. Der Raub wird dilettantisch geplant und durchgeführt, ist nur die Passage zum eigentlichen Kern des Films. Statt der erhofften Tausender findet sich im Safe ein ominöses Notizbuch, eindeutiger Beweis für die mafiösen Verbindungen der Gewerkschaft. Was folgt ist ein Alptraum von Erpressung, Verschwörung, Misstrauen, Mord und Verrat.
Ähnlich wie seinen Komplizen Martin Scorsese treibt Paul Schrader stets die Frage nach der Möglichkeit von Erlösung um, Erlösung insgeheim eher weltlicher als plakativ religiöser Natur; und stets spielt das Auto in ihren Filmen dabei eine besondere Rolle. Man denke an die Schrader-Filme bzw. Schrader-Scorsese-Produktionen TAXI DRIVER (USA 1976), AMERICAN GIGOLO (USA 1980), LIGHT SLEEPER (USA 1992) und BRINGING OUT THE DEAD (USA 1999). Anstatt sie als religiöse Meditationen zu rezipieren, bietet sich vielmehr an, sie in erster Linie als Erlösungswünsche aus prekären materiellen Verhältnissen zu betrachten. Die Figuren Vietnam-Veteran, Sexarbeiter, Drogendealer und Rettungssanitäter bezeichnen in ihrer körperlichen Materialität wie in der sie umgebenden sozialen Materialität ein destruktives, exploitatives, zweckrationales und vom Mangel bestimmtes Verhältnis.
Mit dem Start der Automotoren beginnen diese Filme alsdann Erlösungsangebote zu produzieren, phantasmagorische Wunscherfüllungen und Trugbilder am Straßenrand (nicht selten in den dort wartenden Kinoprogrammen). Oder sie machen zumindest das Fahren selbst erfahrbar als geisterhafte, kurzzeitig den Rhythmen, Abläufen und Zwängen des Außen enthobene, neue Bewegungsqualität. Schon bei John Ford war das Durchfahren der Welt die Erfahrung einer potenziell utopischen, neuen Welt.
BLUE COLLAR führt Schrader an die industrielle Basis dieses fordistisch-kinematografischen Komplexes der (Be-)Trug- und Wunschbilder eines besseren Lebens. In einer Kulturgeschichte der motorisierten Fortbewegung auf Rädern kommt dem Auto nach der Postkutsche und der Eisenbahn ein besonderes Merkmal zu. Im Gegensatz zum kollektiven Reisen in Kutschwagen und Eisenbahnwaggons markiert das Auto einen Modus des partikularen, vereinzelten Reisens. Die im Autofilm so beliebten Zufallsbekanntschaften, zugestiegenen Fremden, Verfolger oder Fliehenden laborieren um diese industriell-verschweißte Partikularisierung im Pkw. (Vgl. Adorno 1969: 198) Folgerichtig beginnt BLUE COLLAR mit der Autoproduktion am Fließband, steigert sich vor dem Finale in eine Autoverfolgungsjagd auf Leben und Tod, um den Zuschauer schließlich mit einem fatalistischen Showdown in der Fabrikhalle aus dem Film zu entlassen.
Die Gemeinschaft der drei Helden des Films ist nicht mehr intakt, die Solidarität unter den Arbeitern ist partikularen Aufstiegsdeals gewichen und rassistische Gewalt bricht sich Bahn. Fluchten sie zu Anfang nach Herzenslust über die gemeinsame Arbeit, fluchen jetzt Polen über Schwarze und umgekehrt, die Schraubenschlüssel nicht gegen ihre Expropriateure, sondern gegen ihre Klassen- und Leidensgenossen erhoben.
Kurz bevor die Hölle losbricht, stellt Schrader das Bild wieder still und lässt es in ein tiefes Rot überblenden. Seine Schlusseinstellung ist mehrdeutig, ein Höllenszenario proletarischer Aporie und als Umkehrung die Möglichkeit proletarischer Erlösung. Frei nach Godard auf den Widerspruch gebracht: Es ist nicht nur Blut, es ist auch Rot. (Vgl. Deleuze 1997: 164)
Paul Schrader hat BLUE COLLAR im Jahre 1978 gedreht, einer Zeit des ökonomischen Paradigmenwechsels. Mit Beginn der 1980er Jahre transformiert sich der westliche Industriekapitalismus unwiederbringlich in einen digitalen Angestelltenkapitalismus, Detroits Autoindustrie bricht unter der globalisierten Konkurrenz ein. Im Hinblick auf das heute vorherrschende Unverständnis der digitalen Klasse für das geisterhaft gewordene Industrieproletariat, im Hinblick also auf den Triumph des Partikularinteresses über die Utopie, schaudert es einen ob der Hellsichtigkeit von Schraders Film. Der Lack ist ab, was noch aussteht, ist das Rot. Mögen das kinematografische Auto und das automobile Kino nicht aufhören daran zu erinnern.
Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1969) Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: S. Fischer.
Deleuze, Gilles (1997) Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Horkheimer, Max (1985) Gesammelte Schriften Bd. 12. Nachgelassene Schriften 1931–1949, Frankfurt am Main: S. Fischer.