(Virtually Present, Physically Invisible)
Ich stehe nachts im Dämmerlicht allein in einer Wüstenlandschaft irgendwo zwischen den USA und Mexiko. Einen Moment zuvor war ich noch in einem Raum mit weißen Wänden und grellem Licht, der an eine Gefängniszelle erinnert. Auf dem Boden zwischen kalten, silbernen Metallbänken lagen einzelne dreckige und verstaubte Schuhe, deren Sohlen kaputt und löchrig sind. Dort habe auch ich meine Schuhe ausgezogen und bin beim Ertönen eines Alarmsignals in einen großen, dunklen Raum gegangen, dessen Boden vollständig mit Sand bedeckt ist. Barfuß und ausgestattet mit VR-Brille, Kopfhörern und Rucksack befinde ich mich nun in der Wüste, umgeben von Sand, Kakteen und Felsen am Horizont. Nach nur wenigen Augenblicken sind Stimmen und Schritte zu hören. Ich wende mich in die Richtung der Geräusche und eine Gruppe von vielleicht zehn Menschen kommt auf mich zu. Ein Mann geht leicht voran, eine Frau wird gestützt, ihr Knöchel ist verletzt und sie hat Schmerzen. Die Männer, Frauen und Kinder sind erschöpft, sie können kaum mehr weitergehen. Es bleibt nur kurz Zeit, sich unter den Personen umzusehen, sie näher oder aus der Ferne zu betrachten, da erscheint das grelle Licht eines Hubschraubers am Himmel. In den aufwirbelnden Sand, den ich am ganzen Körper spüren kann, und das Motorengrollen, das mir in den Magen fährt, mischen sich aufgeregte Rufe: „Get down! Get down!“
Das Szenario des VR-Films CARNE Y ARENA (USA 2017) ist kurz umrissen: Menschen, die versuchen die Grenze in die USA auf illegalem Weg zu überqueren, werden von der Border Patrol aufgegriffen und abgeführt. Erst die immersive Erfahrung der Virtual Reality verdeutlicht aber die lebensbedrohlichen Ausmaße und die emotionale Aufladung dieser scheinbar einfachen Tatsache. Es ist das Anliegen von Regisseur Alejandro G. Iñárritu, dies für die Besucher_innen erfahrbar zu machen. Es gehe darum, die Sicherheit des Museumsraumes zu verlassen, heißt es in der Broschüre des Eye Filmmuseums (Amsterdam), in der sich auch Iñárritu selbst zu Wort meldet:
I’ve experimented with VR technology to explore the human condition in an attempt to break the dictatorship of the frame – within which things are just observed – and claim the space to allow the visitor to go through a direct experience walking in the immigrants’ feet, under their skin, and into their hearts. — Alejandro G. Iñárritu (carneyarenadc.com/about)
Iñárritu arbeitete mit mexikanischen und zentralamerikanischen Migrant_innen zusammen, die auf diesem Weg in die USA gekommen sind: der Film beruht auf ihren Erfahrungen und sie spielen sich selbst. Im Anschluss an den Film sind in einem weiteren Raum gefilmte Portraits in die Wand eingelassen, die die persönliche Geschichte jeder_s Einzelnen erzählen. An der Grenze von Fiktion, Dokumentation und Animation entsteht ein kurzer Einblick in eine Situation, wie sie sich täglich ereignet und doch zumeist unsichtbar bleibt.
I invited some of them [die Migrant_innen; A.R.] to participate in this project so that their personal journeys would not be just a statistic for the rest of us, but would instead be seen, felt, heard and experienced by others. […] By adapting the events experienced by one or many of the immigrants during their journeys across the border and adding specific details described by them, I wrote and staged a scene creating a multi-narrative space that integrates many of them in what could be called a semi-fictionalized ethnography. – Alejandro G. Iñárritu (Eye Filmmuseum 2018)
CARNE Y ARENA erweitert das Filmische. Nicht nur ist der kurze VR-Film in einen Ausstellungs- oder Installationskontext eingebunden, auch werden mehr Sinne als bei der audiovisuellen Rezeption eines Films direkt angesprochen. Mein Blick ist frei, ich kann meinen Standort und meine Perspektive auf die Geschehnisse selbst wählen. Meine Aufmerksamkeit, die in dieser virtuellen Welt zunächst einmal ungesteuert und nicht fokussiert ist, wird durch visuelle, akustische und körperliche Reize auf das Geschehen gelenkt. Zwar wird mein Körper in der realen Welt des Ausstellungsraumes mit einem Rucksack ausgestattet und ich spüre den Wind des Hubschraubers auf meiner Haut und den Sand der Wüste unter meinen Füßen, doch in der virtuellen Welt habe ich keinen Körper: Auch wenn dort jemand eine Waffe auf mich richtet, sollte mir nichts passieren. Fliegt der Hubschrauber über die Szene, ist er vor allem zu hören – und zu spüren; das blendende Suchlicht macht es nahezu unmöglich, ihn tatsächlich am Himmel zu erblicken. Sein Auftauchen in der virtuellen Realität wird durch starke Wind- und Soundeffekte im realen Raum körperlich spürbar gemacht. Vor allem in dieser Körperlichkeit, die in CARNE Y ARENA durch geschickten technischen Einsatz erzeugt wird, unterscheidet sich die VR-Erfahrung von der klassischen Kino-Erfahrung. Die Dominanz des (Audio-)Visuellen wird herausgefordert. Mein Körper befindet sich nicht mehr in der sicheren Geborgenheit des Kinosessels, er wird beweglich und damit zugleich angreifbar und verletzlich gemacht. Die Erfahrung sich alleine in einer fremden, unwegsamen Umgebung zu befinden, die ich mit den Migrant_innen teile, wird dadurch fühlbar, erlebbar, greifbar.
Iñárritu schöpft vor allem das emotionale Potential dieser neuen Kunst aus. Während der Hubschrauber über der Gruppe kreist, muss ich mich entscheiden, ob ich die mir zugewiesene Rolle annehme und als Teil der Gruppe handele, Deckung suche und mich ducke; oder die Szene von außen beobachte, ein paar Schritte zurück gehe. Wenn die Beamten der Border Patrol aus den heranfahrenden Autos springen, sie ihre Waffen auf die am Boden liegenden Migrant_innen richten und Männer und Frauen getrennt zu den Autos geführt werden, stehe ich hilflos daneben. Ich werde gezwungen, mich zu den Geschehnissen zu verhalten, muss meinen Standpunkt wählen, kann genauer hinschauen oder den Blick abwenden. Ich befinde mich zwischen der Identifikation als Protagonist_in und einer selbst gewählten, distanzierten Position als Beobachter_in.
Auch wenn mit dem VR-Film in erster Linie ein immersives Eintauchen angestrebt wird, das die mediale Vermittlung vergessen lassen soll, war ich mir stets bewusst, dass ich gerade zu meiner eigenen Kamerafrau werde, ich mich in brenzligen Situationen in der Sicherheit des Ausstellungsraumes befinde und diese virtuelle Realität für mich nur über technische Ausstattung heraufbeschworen wird. Dennoch werden die technischen Möglichkeiten in der Kombination von VR-Brille und Ausstellungsraum in CARNE Y ARENA gekonnt genutzt, um mittels der verstärkten körperlichen Erfahrung Emotionen zu erzeugen. In dem dadurch entstehenden immersiven Erleben einer Realität der Anderen – der Migrant_innen –, in die ich buchstäblich hineinversetzt werde, liegt das Potential der Virtual Reality, das genutzt wird, um Empathie zu stiften. Vor den Hintergrund aktueller Geschehnisse an der US-amerikanischen Grenze, wie auch durch Verweise auf die europäische Mittelmeergrenze, transportiert CARNE Y ARENA damit eine klare politische Botschaft. Die Ausstellung beginnt und endet in einem abgedunkelten Warteraum. An der Wand prangt ein überdimensionales organisches Herz, dessen Herzkammern mit ‚U.S.‘ und ‚T.H.E.M.‘ bezeichnet sind. Adern – zugleich Wege oder Flüsse auf einer Landkarte – sind beschriftet mit ‚Immigrants‘, ‚Patriots‘, ‚Refugees‘, ‚Citizens‘, ‚Illegal Aliens‘ oder auch ‚Artists‘ und ‚Activists‘.
Der knapp 7 Minuten lange Oscar-prämierte Virtual Reality-Film von Regisseur Alejandro Gonzáles Iñárritu (BABEL, BIRDMAN) ist in Amsterdam und Rotterdam zu erleben.
Eye Filmmuseum/Gonzáles Iñárritu, Alejandro (2018): Carne y Arena (Virtually Present, Physically Invisible). Ausstellungskatalog. Amsterdam: Eye Filmmuseum.
N.N. (2018): Carne y Arena. (Virtually present, Physically invisible). https://carneyarenadc.com/ (letzter Zugriff: 31.07.2018)