Jean Baudrillard wird 75
"Von all dem, was ich über Kunst gesagt habe, fand ich nur spannend, was sich auf Warhol, Pop-Art und den Hyperrealismus bezog", eröffnet Jean Baudrillard 1990 ein Gespräch mit Françoise Gaillard.1 Das Verhältnis von Baudrillards Philosophie zur Kunst stand nun, anlässlich seines 75. Geburtstags, auf der Karlsruher ZKM-Tagung "Baudrillard und die Künste" (16.-18.7.2004) erneut auf dem Prüfstand. Zwanzig internationale Redner beschäftigten sich mit seinen Theorien, seinen Fotografien und der immer noch von Missverständnissen geprägten Baudrillard-Rezeption.2
Baudrillard wiederholte seine eingangs zitierte, Kunst eher als Methode denn als Gegenstand seiner Philosophie betrachtende Ansicht und radikalisierte sie während der Podiumsdiskussion mit Peter Weibel, Johann Gerhard Lischka, Christoph Blase und Sylvère Lotringer sogar noch: "Der Gegenwartskunst gegenüber kann ich kein Urteil haben." Sein Denken bezieht sich zwar auf Kunst, kann jedoch – und darin widersprachen ihm einige Diskutanten – selbst keine ästhetische Theorie sein. Eine mögliche Perspektive auf die Tagung ließe sich durchaus von dieser These ausgehend einnehmen: Wie verhält sich Baudrillards Denken zur Kunst und diese zu seinem Denken?
Baudrillard verdeutlicht spätestens seit dem Erscheinen der ersten Texte zur Simulationstheorie, dass sich die Sphären Theorie und Kunst bei ihm nicht einfach voneinander trennen lassen. In seinen Schriften greift er immer wieder auf Kunst und Medien zurück, um an ihnen jene "Präzession des Modells"3 vor den Tatsachen zu illustrieren, welches die "Ära der Simulation"4 charakterisiert. Und im Gegenzug zehrt die Kunst von Baudrillards Theoriengebäude; Kunst, die damit einen Spiegel der Simulationsmoderne bildet.
Gemäß den Überlegungen zur Transästhetik, die Baudrillard 1989 als Totalästhetisierung der "Gesamtheit der Tätigkeiten, die man gemeinhin als Kultur bezeichnet"5 konstatiert, ist Kunst nicht mehr ein- oder abgrenzbar und deshalb ist jeder Gedanke über Phänomene des Alltags immer schon auch ein ästhetischer Gedanke. Kein Wunder also, dass Baudrillard sich nicht für das interessiert, was die ästhetische Produktion als "Kunst" ausweist, wenn dieser Kunstbegriff nicht alles umfasst, "was der Mensch dem Zufall entreißt" (Barthes)6. Implizit haben die Tagungsteilnehmer diesen Gedanken transästhetischen Kunstverständnisses in ihren Vorträgen berücksichtigt und weitergedacht. Denn die vier großen Themenkomplexe der Tagung (Terrorismus, Philosophie, Kunstproduktion und Medien) wurden allesamt auch als Formen der Transästhetik diskutiert.
Den gewichtigsten Teil der Beiträge bildeten die Ausführungen zum Terrorismus, insbesondere zu den Ereignissen des 11. September 2001. Boris Groys, Michaela Ott, Douglas Kellner und Mikhail Ryklin sahen sich dabei vor allem Baudrillards Thesen aus dem 2001 veröffentlichten Essay "Der Geist des Terrorismus" verpflichtet. Baudrillard hatte bereits zwei Monate nach dem Einsturz des World Trade Centers auf die Mitschuld der USA an den Geschehnissen verwiesen und interpretierte den Angriff der Terroristen als Kampf gegen die Globalisierung, das durchaus als suizidales Ereignis vorhersehbar war. Auch auf die besondere Rolle der Medien, die diesen Terrorakt schließlich erst zu dem machten, was er werden sollte: ein "Selbstmord als Kunstwerk"7, insistierte Baudrillard.
Diese These wurde von Boris Groys konkretisiert, indem er sie in Baudrillards Überlegungen zum "symbolischen Tausch", zum "Potlatsch, von dem wir nicht wissen, ob wir ihn gewinnen können" (Groys) übertrug und auf die jüngsten Geschehnisse in Abu Ghraib anwandte. In den Bildern der folternden Besatzer sah er Ähnlichkeiten zu den Performances des Wiener Aktionismus und eine Aufforderung: "Die Folterbilder sind Kunst und Aufforderung zur Gegenkunst" (Groys). Diese Aufforderung wurde nach Groys mit den Entführungs- und Geiselvideos terroristischer Gruppen wie der Sarkawis beantwortet – ein ästhetischer, ein zynischer Diskurs.
Von der Medialisierung des Terrors sprach auch Telepolis-Chefredakteur Florian Rötzer. Er folgte dabei Baudrillards These des Terrorismus als "Medienereignis", welches vom Fernsehen und vom Internet inszeniert und von den Terroristen zielgenau eingesetzt wird. Hinter den immergleichen Bildern der islamistischen Geiselnehmer, die vermummt und bewaffnet Spalier hinter einer knienden Geisel stehen, sah Rötzer eine zwar wenig ausgeklügelte aber dennoch effektive Inszenierung für die Medien, die sich viral verbreitet und von anderen Terrorgruppen adaptiert wird. Diese Wirkmacht der Medien im Dienst des nicht immer politisch motivierten Terrorismus verdeutlichte Rötzer in einem Fundstück von "Alltagsterrorismus": Ein 52-jähriger Schweißgeräte-Händler aus Colorado sorgte durch eine Amokfahrt für genau jene Aufmerksamkeit, die ihm zuvor verwährt wurde: Die Stadtverwaltung wollte die seine Nachbarschaft betreffenden Bebauungspläne nicht mit ihm diskutieren, also stellte er der Administration mit Hilfe einer selbst gebauten Panzer-Planierraupe seine eigenen Ent-bauungspläne vor. Die Amokfahrt, bei der niemand außer dem Fahrer zu Schaden kam, hatten die Medien minutiös dokumentiert.
An diesen Interpretationen terroristischer "Kunstproduktion" zeigt sich die Plausibilität der Transästhetik besonders deutlich. Die Hypothesen Baudrillards, die eine solche Indifferenz und Interferenz zwischen Realem und Medialen schon in den 1970er Jahren prognostizierten, finden sich aber auch auf dem Sektor der offiziellen Kulturproduktion. Deren Beeinflussung durch die Theorien Baudrillards äußert sich dabei nicht nur auf direktem Weg, wie bei den New Yorker Simulationisten, denen er bei einem Besuch riet: "Wenn ihr die Simulation ernst nehmt: Vergesst Baudrillard!" Auch in subtileren Schichten künstlerischer Produktion findet sie sich wieder.
So referierte der Medien- und Technologieforscher Alan Shapiro über die Star Trek-Fernsehserie, die lange vor Baudrillard dessen Thesen zu antizipieren schien. "Zwischen Baudrillard und Star Trek gibt es auf zwei Ebenen eine unheimliche Ähnlichkeit", konstatierte Shapiro in seinem Vortrag. Diese beiden Ebenen beträfen einerseits die mediale Präkognition von Baudrillards Schlüsselbegriffen (Ungewissheit, Anerkennung des Andersseins, technische Unfälle und Überraschungen, symbolischer Tausch, duale Beziehung) und andererseits die "pataphysische Science-Fiction-Technologie" (Shapiro), die sich in Star Trek in den Transportern, der Warp-Geschwindigkeit, den Zeitreisen und im Holodeck offenbaren – allesamt fiktionale Entwürfe, die sich neben den Reflektionen bei Baudrillard mittlerweile auch in wichtigen Forschungsfeldern der Physik wiederfinden. Shapiro illustrierte dies plastisch an Beispielen aus beiden "Universen": dem der Star Trek-Serie(n) und dem der Quantenphysik.
Die Geburtstagsfeier wurde gerahmt von einer Ausstellung, in der Peter Gente (Merve-Verlag) seine über Jahrzehnte angesammelten Dokumente über und von Jean Baudrillards präsentierte. Doch neben diesen zum Teil etwas skurrilen Sammelobjekten (eine Vitrine etwa enthält alle Bücher, auf die sich Baudrillard in seinem theoretischen Werk explizit bezieht) forderten vor allem der Film "Paßwörter", in dem die wichtigsten Termini Baudrillards von ihm selbst vorgestellt wurden sowie seine Fotografien die Aufmerksamkeit des Galeriebesuchers. Diese Fotografien bildeten dann auch den zweiten großen Vortragsgegenstand der Tagung.
Neben dem Wirtschaftswissenschaftler Marc Guillaume, der über die Einzigartigkeit Baudrillards Denken, die zwischen Theorie, Fiktion, Analyse und Kunst changiert, sinnierte und dabei die Fotografien als bedeutsame "Sichtbarmachungen des Denkens" interpretierte, kamen der Berliner Erziehungswissenschaftler Christoph Wulff mit einem Vortrag über Baudrillards Theorie des Bildes und der Bonner Medienwissenschaftler Michael Wetzel auf Baudrillards Fotografien zu sprechen.
Wetzel hob vor allem die kunst- und kulturhistorischen und -theoretischen Implikationen sowohl in Baudrillards Denken 'über' Fotografie als auch in seinem Denken als Fotografie hervor. In seinen Bildern fände sich Baudrillard als "Anwalt der Objekte" wieder, der sich gleichzeitig "für die Objektivität der Photographie stark macht" (Wetzel), was sich vor allem in der Verweigerung der "transzendentalen Wende des Subjekts" verdeutliche. Wetzel nahm Baudrillards Denken mit und über Fotografie zum Anlass die Philosophie der Fotografie von Benjamin über Barthes bis Serge Daney nachzuzeichnen und „Baudrillards eigene Reflexionen der bildhaften Praxis als so etwas wie eine androgyne Gelenkstelle darzustellen.“
"Was von der Tagung übrig blieb", so könnte man sagen, ist vor allem die Vielfältigkeit, die sich in Baudrillards Denken und Wirken zeigt und die sich in dessen Rezeption noch einmal verdoppelt. Dass seine Überlegungen und Thesen sowohl formal als auch inhaltlich nicht ihren "Reiz" (auch im Sinne von "reizen") verloren haben, offenbarte sich vor allem in der Podiumsdiskussion. Daneben zeigt doch aber gerade der Wille zur kontroversen Diskussion, dass Baudrillard akademisch mittlerweile ernst genommen wird.