Wie sich die Alter Egos Nanni Morettis von IO SONO UN AUTARCHICO bis IL SOL DELL’AVVENIRE entwickeln
In den 1970er-Jahren begann der italienische Regisseur Nanni Moretti seine Filmkarriere und führte in seinen Filmen ein Alter Ego ein, welches den Namen Michele Apicella trägt. In insgesamt fünf Spielfilmen verkörpert Moretti eine Hauptfigur mit dem Namen Michele Apicella, welcher jedoch nie ein und derselbe Charakter ist. In jedem Film hat er einen anderen Job, andere Hobbys, einzig der Name und einige wiederkehrende Charaktereigenschaften bleiben. Die wiederkehrenden Attribute wurden schließlich Moretti selbst als Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller zugeschrieben (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 8).
Moretti gibt offen zu, autobiografische Elemente in seine Filme miteinfließen zu lassen (vgl. ebd.: 18), da er so besser über andere Themen wie Politik und das moderne Kino reden und diese kommentieren könne (vgl. ebd.: 35). Er schaffe so ein Bild seiner Generation, welche er humorvoll-satirisch darstelle (vgl. Andrews 2014: 164f.). In den 1990er-Jahren spielte Moretti dann nicht mehr Michele Apicella, sondern – ganz im Sinne der Autotheory – sich selbst, Nanni Moretti (oder eine fiktive Version seiner selbst).
Eine der größten Errungenschaften dieses Regisseurs liegt nicht in seiner Fähigkeit, in seinen Filmen ein wahrheitsgetreues Selbstporträt zu präsentieren, sondern darin, die Grenzen zwischen seinen Persönlichkeiten auf dem Bildschirm und außerhalb des Bildschirms zu verwischen und so die Bedeutung der Autobiografie selbst zu erforschen und in Frage zu stellen. [Übersetzung des Verfassers] (Mazierska/Rascaroli 2004: 8)
In diesem Text möchte ich darauf eingehen, inwiefern sich die Filmfigur Michele Apicella und die reale Person Nanni Moretti überlappen und aufeinander aufbauen. Wie erschafft der Regisseur mit ‚Michele Apicella‘ und ‚Nanni Moretti‘ Fiktionen seiner Selbst und lässt dabei die Grenzen zwischen diesen sowie seiner Person abseits der Kinoleinwand verschwimmen und verschwinden? Anschließend wird der Fokus auf die Filme gelegt, die der Regisseur nach der Jahrtausendwende bis einschließlich IL SOL DELL’AVVENIRE/A BRIGHTER TOMORROW (IT 2023) gedreht hat. In diesen löst sich Moretti von einem autobiografischen zu einem reflexiven Charakter und spielt häufig eine Rolle namens Giovanni. Handelt es sich bei Giovanni somit um ein weiteres Alter Ego des Regisseurs? Denn Giovanni ist Nanni Morettis bürgerlicher Vorname. Indem Nanni Moretti seine Alter Egos von Film zu Film weiterentwickelt und dabei über das ‚Ich‘ und dessen Rolle reflektiert, begreift er das ‚Ich’ als einen Work-in-Progress und weniger als etwas Statisches, was mit Alex Kitnicks Verständnis des Neu-Denkens des Ichs in der Autotheory einhergeht (vgl. 2019: 60).
Autotheory beruht auf dem Theoretisieren und Philosophieren aus der jeweiligen Situation heraus, in der sich die kunstschaffende Person befindet, wobei vom eigenen Körper, den eigenen Erfahrungen, Anekdoten, Vorurteilen, Beziehungen und Gefühlen ausgegangen wird, um kritisch über Themen wie Ontologie, Erkenntnistheorie, Politik, Sexualität oder Kunst zu reflektieren. [Übersetzung des Verfassers] (Fournier 2021: 68)
Die Authotheory ist eine Praxis in der Kunst, in der Ich-bezogene Kunstformen wie Autobiografien, Tagebücher und Essays genutzt werden, um durch das Einbringen der eigenen Erfahrungswerte eine soziokulturelle Erzählung zu schaffen, die „den rohen Reichtum des autobiografischen Materials verstoffwechselt, […] diese Erfahrung mit somatischer Weisheit anreichert und aus einem kapitalistischen Patriarchat in originelle Artefakte verwandelt“ [Übersetzung des Verfassers] (Marilyn Freeman in Freeman/Auburn 2022: 3). Die Autotheory geht als vorwiegend feministische Praxis in der Kunst auf die 60er- und 70er-Jahre zurück (vgl. Lee 2021: 399) und fand ihre Anfänge durch den von Roland Barthes ausgerufenen Tod des Autors (vgl. Wiegman 2020: 1). Auf den Tod des*der Autor*in folgte die Geburt des*der Leser*in, ein damit einhergehender Wechsel der Machtstrukturen. Nicht mehr war der*die Künstler*in der*diejenige, der*die dem Werk an Wert verlieh, erst die Lesenden gaben der Kunst ihren Wert. Im Zentrum stand nicht mehr die Frage danach, was die kunstschaffende Person aussagen möchte, sondern was die kunstlesende Person hineininterpretieren kann.
Es wurde gängige Praxis, die Kunst durch eigene Erfahrungen in einen gesellschaftspolitischen und zeitgenössischen Kontext zu setzen. Fragen nach der Sexualität, nach Verlangen und Klasse wurden präsenter. Sozialgesellschaftliche Probleme und (Ge-)Schichten wurden sichtbar gemacht, die vorher medial unsichtbar waren (vgl. Kitnick 2018: 45-47). Ein berühmtes Beispiel ist DENSE MOMENTS (USA 2004) von Gregg Bordowitz, der seinen Kampf mit AIDS ganz offen und transparent thematisiert. Seine Hoffnung dabei war, dass er nicht der einzige sei, der diese Schlacht zu schlagen habe, und er wollte durch die Erfahrungen eine authentische Note einbringen, die bei der medialen Berichterstattung über AIDS in den 90er-Jahren sonst keine Rolle spielte (vgl. ebd.: 48f.; Bordowitz 2004: 130). Durch das Teilen der eigenen Erfahrungen und das Objektwerden des*der eigentlichen Schöpfer*in der Kunst soll so eine intimere Bindung zwischen schöpfender und lesender Person geschaffen werden, sodass eine höhere Identifikation stattfinden kann (vgl. Kitnick 2018: 51).
Bereits bei seinem Erstlingswerk wurden Nanni Moretti gewisse charakterliche Parallelen zu seiner Filmfigur nachgesagt, übernimmt Moretti doch in IO SONO UN AUTARCHICO/ICH BIN EIN AUTARKIST (IT 1976) neben der Regie und dem Drehbuch auch die Hauptrolle des Michele Apicellas1. Von 1976 bis 1989 spielt Nanni Moretti fünf verschiedene Inkarnationen Michele Apicellas, die unmöglich dieselbe Person sein können. Dennoch wird Apicella gewissermaßen zu einem Alter Ego Morettis. Typische und wiederkehrende Charaktereigenschaften Apicellas sind seine neurotische, aggressive, schwer umgängliche, exzentrische, arrogante und narzisstische Art (Mazierska/Rascaroli 2004: 8, 26). Vor allem eine neurotische wie exzentrische Tendenz werden auch dem Regisseur nachgesagt (vgl. ebd.: 17).
Durch Morettis Charakterisierung Apicellas wird dieser zu einer Satire der gemeinsamen Generation. Moretti nutzt Apicella und andere Filmcharaktere, gemäß dem Mantra der Autotheory „das Persönliche ist politisch“ [Übersetzung des Verfassers] (Kitnick 2018: 47), um zeitgenössische politische Themen wie anstehende oder vergangene Wahlen in APRILE (IT 1998) sowie die Zerstrittenheit innerhalb der kommunistischen Partei in PALOMBELLA ROSSA/WASSERBALL UND KOMMUNISMUS (IT 1989) anzusprechen. Ferner reflektiert er in Filmen wie SOGNI D‘ORO/GOLDENE TRÄUME (IT 1981) und CARO DIARIO/LIEBES TAGEBUCH (IT 1993) über das zeitgenössische italienische Kino (vgl. Andrews 2014: 164f.).
Moretti betont zwar stets, dass Michele Apicella ein Charakter in einem narrativen Film sei und nicht tatsächlich er, räumt aber wie bereits angedeutet ein, dass viele autobiografische Elemente, Ansichten und Charakteristika in seine Protagonisten mit einfließen (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 18). Dazu gehören seine Zugehörigkeit zum politisch linken Spektrum, eine Obsession mit Schuhen in BIANCA (IT 1984), eine Vorliebe für Süßes, insbesondere die Sachertorte2 sowie für Ball-Sportarten wie beispielsweise Wasserball in PALOMBELLA ROSSA3. In den 1990er-Jahren spielt Moretti dann in CARO DIARIO und APRILE nicht mehr Michele Apicella, sondern eine Rolle mit dem Namen Nanni Moretti, eine fiktive Version seiner selbst. Indem er in APRILE in seinem eigenen Haus mit seiner tatsächlichen Familie dreht, setzt er ein klares Zeichen für seine in diesem Fall unbestreitbare autobiografische Filmweise (vgl. ebd.: 32f.).4
Die Filmwissenschaftlerinnen Ewa Mazierska und Laura Rascaroli werfen in Bezug auf Nanni Moretti die Frage auf, was eine Autobiografie ist und sein kann. Wenngleich unter einer Autobiografie hauptsächlich das im Zentrum stehende ‚Ich‘ verstanden wird, bezeichnen sie alles als autobiografisch, was etwas über die Person hinter dem Werk preisgibt. Demnach seien die Apicella-Filme nicht weniger autobiografisch als CARO DIARIO und APRILE. Da jegliche Erzählungen durch ihre Darstellungsart und Erzählform subjektiv sind, merken Rascaroli und Mazierska außerdem an, dass im Grunde nichts wirklich autobiografisch sein könne. Sie sprechen in Bezug auf Nanni Moretti daher von einem autobiografischen Effekt: „Anstatt zu versuchen, festzustellen, ob ein Film von Moretti autobiografisch ist oder nicht, werden wir über den ‚autobiografischen Effekt‘ sprechen, womit der Eindruck des Publikums gemeint ist, das Leben des Autors des Films zu sehen“ [Übersetzung des Verfassers] (2004.: 17).
Das Zusammenspiel aus autobiografischen und fiktiven Elementen wird als Autofiction5 bezeichnet. Hierbei spielen nicht nur die Kunstwerke der schaffenden Person eine Rolle, sondern auch die Reputation und Rezeption. Diese können durch die Klatsch-und-Tratsch-Presse, Gerüchte, mediale und öffentliche Auftritte, die Social-Media-Präsenz und anderweitige Mittel gesteuert werden; in Morettis Fall, indem dieser sich auch über die Kinoleinwände hinaus politisch aktiv zeigte und in den frühen 2000er-Jahren „eine der aktivsten und repräsentativsten [Stimmen] der populären Protestbewegungen gegen die [zu dem Zeitpunkt] gegenwärtige Berlusconi-Regierung [wurde]“ (Mazierska/Rascaroli 2004: 8).6 Im sich stets wandelnden politischen System sei das ‚Ich‘ in der Autotheory nicht statisch, sondern ein sich andauernd weiterentwickelndes Element in der Kunst. Der Kunstwissenschaftler Alex Kitnick beschreibt, dass das ‚Ich‘ im gesellschaftspolitischen Zeitgeist immer wieder von Neuem verankert werde und sich stets neu positionieren müsse (vgl. 2019.: 60). Trotz der Individualität, die Moretti jeder Inkarnation Michele Apicellas einräumt, finden sich dennoch charakterliche Weiterentwicklungen über die Filme hinweg. Moretti selbst offenbarte dem Magazin Epd Film im Interview, dass jeder seiner Filme gewissermaßen ein Kommentar auf den vorangegangen sei. Moretti würde damit als Reflexion offenbaren, was er selbst über seinen letzten Film denke: „Die Wandlungen, die es bei mir von Film zu Film gibt, machen mein Kino aus. Herauszubekommen, was ich über meine Filme denke, geht vielleicht so: Sie müssen sich immer den nachfolgenden Film anschauen. Vom nachfolgenden Film her verstehen Sie, was ich über den vorangegangenen denke“ (Moretti in Gansera 1994: 26). Dies klingt nach einer stetigen Weiterentwicklung als Filmemacher, aber wie zeigt sich dies in der Figur Michele Apicella, und wie entwickelt sich dieser als ein in jedem Film neu etablierter Charakter weiter?
Um Nanni Morettis Biografie einfacher zu strukturieren, teilen Ewa Mazierska und Laura Rascaroli sein Werk in drei Gruppen ein (vgl. 2004: 46f.).
1. Michele will sich von seinen Eltern lösen und seinen eigenen Weg gehen
2. Die Suche nach der perfekten Familie, aber auch die Angst davor
3. Geschichten über reale und nicht ideale Familien
Die erste Gruppe umfasst IO SONO UN AUTARCHICO, ECCE BOMBO und SOGNI D‘ORO. Moretti etabliert sich als Filmschaffenden, seine Art, Filme zu machen und sein Alter Ego, Michele Apicella, als ‚unabhängigen‘, jungen Mann, der sich (als Alter Ego von Moretti?) von den konservativen Konventionen einer älteren Generation zu lösen versucht und seinen eigenen Weg finden will. Apicella ist in ähnlichen Lebenssituationen. In allen drei Filmen lebt er noch bei seinen Eltern oder wird von ihnen finanziell unterstützt, obwohl er mit ihnen in (einem Generationen-)Konflikt steht. Durch freundschaftliche Beziehungen versucht er, sich eine neue Familie aufzubauen, und sucht als junger Mensch seinen Platz in der Welt, um herauszufinden, wer er ist. Vor allem in ECCE BOMBO geht es bei Micheles Suche nach sich selbst auch um ein Wir-Gefühl mit den anderen Männern seiner Generation. Er will sich nicht nur von seiner Familie lösen, er sucht auch bei anderen Bestätigung, eine Eigenschaft, die sich auch in SOGNI D‘ORO zeigt. Michele ist in diesem Film ein junger Regisseur, der stets nach Bestätigung sucht, obwohl er in den Medien als größter Regisseur seiner Generation, als Stimme eines jungen Italiens gefeiert wird.
Dies sind Beschreibungen, die von Kritiker*innen über Nanni Moretti nach IO SONO UN AUTARCHICO und ECCE BOMBO geäußert wurden. Moretti verarbeitet somit in SOGNI D‘ORO den Erfolg und den Druck, denen er selbst ausgesetzt war. Indem Moretti sein Alter Ego so nah an seiner eigenen Lebenssituation konzipiert, wird der autobiografische Effekt seines filmischen Werks verstärkt. Apicella ist arrogant und inkompetent und dass Moretti Apicella negative Eigenschaften zuschreibt, setzt ihn entsprechend dem Urteil der Zuschauenden aus, die Apicellas Arroganz und Inkompetenz auf Moretti projizieren könnten (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 26).7
Ein weiteres wiederkehrendes Charaktermerkmal Apicellas in diesen drei Filmen ist das chaotische Liebesleben. Moretti zeichnet Apicella als einen Menschen, der für eine bestimmte Frau schwärmt wie Silvia in SOGNI D’ORO, aber schlussendlich davor zurückschreckt, sich ihr zu öffnen und einer möglichen Liebesgeschichte eine Chance zu geben. Gespielt wird Silvia von Laura Morante, die auch im Film BIANCA die Frau spielt, in die Michele Apicella vernarrt ist, sich aber nicht traut, mit ihr intim zu werden. Diese Bindungs- und Versagensängste sind Charaktereigenschaften, die sich somit auch in der kommenden Gruppe von Moretti-Filmen findet, in die BIANCA fällt.
In die zweite Gruppe fallen die Filme BIANCA, LA MESSA E FINITA und auch PALOMBELLA ROSSA. Die neuen Eigenschaften des Apicellas in dieser Gruppe von Moretti-Filmen sind nicht mehr das Sich-lösen-Wollen von einer Familie, sondern das Suchen nach einer perfekten Familie, aber auch die Angst davor (vgl. ebd.: 46f.). Statt selbst den Schritt zu wagen, beobachtet er in BIANCA lieber andere Paare und wird dabei in die Verzweiflung getrieben, wenn diese nicht seinem Verständnis von Glück entsprechen. In LA MESSA E FINITA wird Don Giulio8 nach Rom bestellt, in seine Heimatstadt. In einem vertrauen Umfeld mit Freund*innen und Familie muss er feststellen, dass sein Weltbild und seine Vorstellungen von dem, wie das Leben auszusehen hat, nicht mehr mit den Menschen, die er dachte zu kennen, übereinstimmen. So will sein Vater seine Mutter verlassen und kommt mit einer jungen Frau in Giulios Alter zusammen. Seine Schwester ist schwanger und will das Kind abtreiben – eine Sünde nach Giulios Glauben – und Micheles Freund*innen sind entweder im Gefängnis oder wollen nach einer Trennung nur noch für sich sein. Dass Giulio keine Familie oder Person findet, die seinen Vorstellungen entspricht, gleicht Micheles Obsession in BIANCA.
Am Ende von LA MESSA E FINITA begeht Giulios Mutter Selbstmord, eine Todsünde in der katholischen Kirche. Michele hat damit seinen letzten Anker zu seiner Kindheit, zu dem, wie es einmal war, verloren. Der Charakter muss erwachsen werden und kann nicht weiter mit seinen Vorstellungen in der Vergangenheit leben (vgl. ebd.: 73f.). Er muss sich von der Vergangenheit lösen und genau das macht Moretti mit PALOMBELLA ROSSA. In diesem Film kehrt Moretti ein letztes Mal als Michele Apicella zurück, erfindet sein Alter Ego jedoch im Grunde völlig neu. Apicella hat eine Amnesie und muss sich in dem Film seine ganze Identität, seine Biografie neu aufbauen. In etwa so wie vielleicht Moretti selbst, der genug von Apicella hat? Dass der Protagonist in LA MESSA E FINITA bereits einen anderen Namen trägt, kann ein weiteres Indiz für diese Vermutung sein.
Auffällig an PALOMBELLA ROSSA ist, dass Apicella eine Tochter im Teenager-Alter hat. Von einer Mutter fehlt jede Spur. Es handelt sich also um einen Apicella, der offenbar im Gegensatz zu vielen anderen Inkarnationen Verantwortung übernommen hat und eine eigene Familie hat, gleichwohl nicht die perfekte, wie er sie in BIANCA und LA MESSA E FINITA sucht. Diesen Wandel des sich sonst von einer Familie lösen wollenden Apicellas zu einem, der eine sucht, unterstreicht die Schlusszeile von BIANCA: „Es ist traurig, ohne Kinder zu sterben“ [Übersetzung des Verfassers] (vgl. Moretti 1984: 95‘02‘‘).
In APRILE schafft Moretti das, was sich Michele Apicella in BIANCA wünscht: Er wird Vater und hat eine Familie. Diese ist zwar nicht perfekt, aber sie ist real und Moretti füttert dies mit Aufnahmen seiner realen Familie und einer – zumindest auf die Zuschauenden so wirkenden – ungefilterten Ehrlichkeit in Bezug auf die eigene Person. Damit steht nun die dritte Gruppe von Moretti-Filmen, in die Mazierska und Rascaroli unterteilen: Die Geschichten über reale und nicht ideale Familien (vgl. 2004: 46f.). Diese Gruppe umfasst CARO DIARIO, APRILE und LA STANZA DEL FIGLIO. In CARO DIARIO und APRILE spielt Moretti erstmals sich selbst – beziehungsweise eine fiktive Version seiner Selbst. Der neue Protagonist heißt nicht mehr Michele Apicella, sondern Nanni Moretti. Trotz Unterschieden in Morettis Selbstdarstellung als Nanni Moretti im Vergleich zu Apicella kann die Filmfigur Nanni Moretti als eine Weiterentwicklung Apicellas zu verstehen sein: „Er (oder ich, ich weiß nicht) beginnt zu akzeptieren, daß [sic!] die anderen so sind und leben, wie sie selbst es wünschen, und nicht wie er es gern hätte“ (Moretti in Gansera 1994: 25).
Diese Michele-Figur, die ich von Film zu Film weiterentwickelt habe, habe ich nun in CARO DIARIO verlassen, um mich direkt in die erste Person hineinzustürzen. Warum? […] Das bin ich. (Moretti in Gansera 1994: 24)
Um Missverständnisse in Bezug auf Nanni Moretti, die Filmfigur, und Nanni Moretti, die reelle Person, zu vermeiden, wird die Filmfigur als Nanni, die bürgerliche Person als Moretti bezeichnet, wenn nicht anders gekennzeichnet. Nanni ist im Vergleich zu Apicella weniger überzeichnet. Zwar zeigt auch Nanni leicht aggressive, neurotische und exzentrische Charakterzüge auf, ist dabei jedoch deutlich geerdeter. Der größte Unterschied zwischen Michele und Nanni ist, dass Michele es nicht schafft, erwachsen zu werden und dadurch immer unerfüllt bleibt, Nanni hingegen sieht darin eine Stärke, das innere Kind zu bewahren: „Aber warum […] erwachsen werden? Es gibt doch keinen Grund!“ (Moretti 1998: 53‘11‘‘). Mazierska und Rascaroli gehen in Bezug auf diese Entwicklung sogar soweit, dass sie behaupten, Moretti hätte es sich erst durch Michele Apicella erkämpft und verdient, in seinen Filmen Nanni Moretti sein zu können:
Es muss […] betont werden, dass der Erfolg des Protagonisten in CARO DIARIO und APRILE im Umgang mit sich selbst und der Welt hart erkämpft war und dass die Phase des Apicella-Daseins wahrscheinlich eine große Rolle bei seinem Sieg gespielt hat. [Übersetzung des Verfassers] (Mazierska/Rascaroli 2004: 45)
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Gruppen war LA STANZA DEL FIGLIO der neueste Film von Moretti. Mazierska und Rascaroli schreiben selbst, dass der Film in diese Gruppierung falle, da es noch keine weiteren Filme gäbe, in die er sonst eingeteilt werden könnte. Da es mittlerweile mehr Filme Morettis gibt, würde ich vorschlagen, LA STANZA DEL FIGLIO in eine andere Gruppe zu verlegen, die ich im kommenden Unterpunkt vorstellen werden.
In Bezug auf die Frage nach der Praxis der Autofiction, inwiefern ‚Nanni Moretti‘ und ‚Michele Apicella‘ gemeinsam eine mediale Persönlichkeit für den Filmemacher schaffen, muss Kitnick zufolge das ganze Werk der filmschaffenden Person (und auch Auftritte darüber hinaus, die zur Medienpersönlichkeit beitragen) wie eine Art Netz betrachtet werden, in dem verschiedene Fäden zusammenkommen und eine Struktur ergeben. So verhält es sich mit Morettis Filmen, die aufeinander aufbauen und Bezüge herstellen (vgl. 2019: 62).
APRILE stellt mit dem Vaterwerden und dem Friedenschließen mit der Kindheit und einer nicht idealen, aber realen Familie einen Abschluss seiner Michele-Nanni-Geschichte dar. Ganz wörtlich sagt er am Ende des Films: „20 Jahre habe ich Sachen ausgeschnitten, bloß weil sie mich wütend machten. Weg damit!“ (Moretti 1998: 69‘36‘‘). Das Statement des Filmemachers im eigenen Film kann als direkte Antwort auf ECCE BOMBO verstanden werden. Dort fordert Micheles Freundin Silvia (Susanna Javicoli) diesen auf: „Deine Selbstironie ist eine Art, deinen Geisteszustand zu ersticken, dich selbst zu lieben und geliebt zu werden. Du denkst zu viel über dich selbst nach. […] Hör auf damit, Hamlet, Leopardi, das Junge-Werther-Gewissen dieser Welt zu spielen und beginn damit, du selbst zu sein!“ [Übersetzung des Verfassers] (Moretti 1978: 84‘08‘‘).
Silvias Kommentar könnte genauso gut ein Kommentar einer kritischen Stimme gegenüber Moretti und seinen Filmen sein. Die Aufforderung ist gewissermaßen ein Meta-Kommentar und eine Aufforderung an sich selbst, erwachsen zu werden, was Moretti, indem er in APRILE sich selbst spielt, auch gelingt. Er hat einen Sohn, eine Frau, eine Familie. Er kann nicht mehr nur an sich denken und selbstironisch durch das Leben stapfen. Nanni Moretti hat als Filmschaffender die offenen Enden und Problematiken aus ECCE BOMBO und BIANCA aufgelöst und somit auch den Charakterstrang von Michele Apicella und gewissermaßen auch die Selbstfindung seiner eigenen Person im filmischen Sinne abgeschlossen. Es ist also höchste Zeit sich abermals neu zu erfinden!
In Hinblick auf die letzten zwei Dekaden, in denen der Regisseur fünf weitere narrative Spielfilme veröffentlichte, wird nun auf eine vierte Gruppe von Moretti-Filmen eingegangen, die ich als Ergänzung zu Mazierska und Rascarolis Gruppen vorschlage: ‚Die Dekonstruktion des Konzepts von Glück und die immer fortlaufende Suche nach sich selbst‘. Der Fokus liegt hierbei darauf, inwiefern das Spannungsfeld zwischen Michele Apicella und Nanni Moretti dazu geführt hat, dass Morettis Art, Filme zu drehen, sich zu Beginn der Jahrtausendwende wandelte und eine Art drittes Alter Ego hervorbrachte: Giovanni. Durch die Filme zieht sich ein interessanter Bogen, in dem Moretti „nicht mehr Nanni Moretti sein möchte“ (Lerf 2022) und beginnt seine bisher aufgebaute autofiktive Biographie zu reflektieren und zu dekonstruieren.
Erstmals in Morettis Filmografie dreht der Filmemacher mit LA STANZA DEL FIGLIO einen dramatischen Film: „Ich konnte meinen Film nicht so wie früher drehen, also immer denselben heiteren Ton durchhalten. Ich musste ihn mit einem gewissen Realismus drehen, ohne groteske Wendungen“ (Moretti in Ranze/Moretti 2001: 30). Mit Giovanni als Namen entfernt er sich zwar nicht allzu weit von seiner eigenen Person, nimmt als Psychologe allerdings einen neuen Beruf an.10 In dem Film geht es um den Verlust eines Sohnes, der bereits deutlich älter ist als Morettis tatsächlicher Sohn. Moretti setzt damit gewissermaßen dem Glück, welches er seinem filmischen Alter Ego in APRILE gab, eine Tragödie entgegen. Dass der Film mit seinen vorherigen Werken in Bezug gesetzt werden kann, lässt auch die Besetzung von Giovannis Frau vermuten: Laura Morante spielt die Frau von Giovanni, die schon zuvor Bianca im gleichnamigen Film und Silvia in SOGNI D’ORO verkörperte. Michele (oder Nanni oder Giovanni) hat also endlich die Frau an seiner Seite, die er in anderen Filmen angehimmelt hat, aber mit der er nie zusammenkommen konnte, und muss nun mit ihr neue Probleme bewältigen (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 80f.).
In IL CAIMANO ist Moretti ein letztes Mal als ‚Nanni Moretti‘ zu sehen – aber mit einem Twist. Er ist nicht mehr die Hauptfigur. Es geht um eine andere Regisseurin, die einen politisch motivierten Film über Silvio Berlusconi drehen möchte. Der autofiktive Nanni Moretti, der in IL CAIMANO auftritt, wird von der Regisseurin gebeten, die Rolle des Silvio Berlusconi in ihrem Film zu übernehmen, praktisch den Part des politischen Erzfeindes Morettis. Der Film-Moretti weigert sich, Berlusconi zu spielen: „Danke, aber ein Film über Berlusconi … Nein. Alle wissen schon alles über Berlusconi. […] Wozu noch mehr informieren?“ (Moretti 2006: 44‘32‘‘). Stattdessen wolle er lieber eine Komödie drehen, „es ist immer Zeit für eine Komödie, immer“ (ebd.: 46‘02‘‘). Der Meta-Witz ist, dass Moretti mit IL CAIMANO genau diesen politischen Film dreht, den sein fiktives Ich nicht drehen möchte, was den selbstreflexiven Charakter über sein eigenes filmisches Werk, den LA STANZA DEL FIGLIO bereits aufzeigte, unterstreicht. Es wird klar: Der Nanni Moretti, der im Film zu sehen ist, ist nicht der Nanni Moretti, der hinter der Kamera steht.
Morettis Filmografie chronologisch folgend, müsste ich als Nächstes auf HABEMUS PAPAM eingehen. In diesem Film geht es um einen Papst, der frisch gewählt wurde, aber sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt und, wie der deutsche Untertitel uns bereits verrät, ausbüxt. Moretti spielt in diesem Film einen Psychoanalytiker, der zurate gezogen wird. Da dieser nicht den Namen Giovanni trägt und nur in wenigen Aspekten (Begeisterung für Ballsport) eine Art Alter Ego Morettis ist, wird dieser Film hier nicht weiter analysiert. Indem Moretti jedoch mit HABEMUS PAPAM einen Film dreht, der sich so weit von seinen vorherigen unterscheidet, passt der Film wunderbar in die Gruppe der Filme, in denen Moretti seine eigene Autofiktion dekonstruiert und reflektiert und damit spielt, welche Rolle er auf der Leinwand in seinen eigenen Filmen einnimmt.11
In MIA MADRE setzt Nanni Moretti die Dekonstruktion seiner Autofiktion fort. Er spielt erneut einen Charakter namens Giovanni, der Lehrer ist, und damit denselben Beruf wie Morettis verstorbene Mutter ausübt (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 2). Dieser Umstand unterstreicht, dass der Film dem Regisseur als Trauerbewältigung dient (vgl. Péron/Ghys 2015). Giovanni ist in MIA MADRE jedoch weniger das Alter Ego Morettis, sondern vielmehr die Hauptfigur Margherita, Giovannis Schwester. Sie ist Regisseurin und, wenngleich die Schauspielerin Margherita Buy sich den Namen mit ihrer Rolle teilt, verkörpert sie viel von Moretti selbst: „Der wirklich autobiografische Aspekt ist das Gefühl, das Margherita hat - dass sie sich dem, was sie angeht, nie gewachsen fühlt, dass sie sich immer unwohl fühlt. [...] Es ist, als ob sie etwas vermisst. Sie ist immer unzufrieden, nie mit sich im Reinen. Das ist etwas, das zu mir gehört“ [Übersetzung des Verfassers] (Moretti in Pulver 2015).12
Indem er Giovanni spielt, überträgt Moretti sein Alter Ego auf Margherita und nimmt die Rolle eines Unterstützers ein, wie er ihn sich möglicherweise selbst in dieser schweren Zeit gewünscht hätte.13
Die Figur musste von Anfang an eine Frau sein. Ich wollte nicht als Schauspieler am Set im Mittelpunkt des Films stehen. Und ich wollte mich nicht als Regisseur aufspielen. Ich wollte, dass das Herz des Films die Menschlichkeit dieser Leute ist, dass sie als menschliche Wesen gezeigt werden. Warum eine Frau? Ich hielt es für interessanter, diese Geschichte aus der Sicht einer Frau zu erzählen, und zwar über drei Generationen von Frauen: Margherita, ihre Mutter und ihre Tochter. [Übersetzung des Verfassers] (Moretti in Pulver 2015)
Mit TRE PIANI entfernt sich Moretti nach eigener Aussage nicht nur so weit wie möglich von seinem sonstigen Stil und verfilmt erstmals kein Originaldrehbuch, sondern adaptiert eine Buchvorlage.14 Er spielt darüber hinaus eine Inkarnation seines Giovanni-Alter-Egos, der bis auf den Namen nichts mit den anderen Giovannis in Morettis Filmografie zu tun hat, sodass es sich wohl kaum noch um ein Alter Ego handelt. Moretti selbst wollte in diesem Film gar keine Rolle übernehmen, wurde aber schließlich von seinen Co-Drehbuchautorinnen Federica Pontremoli und Valia Santella überzeugt, doch mitzuspielen (vgl. Lerf 2022). Er spielt einen verbitterten Juristen, der als Vater keine Liebe zeigen kann, beinahe schon wie die Eltern von Michele Apicella. Als Stilbruch mit dem klassischen ‚Moretti’-Film und durch das Fehlen eines Alter Egos passt der Film nicht minder in diese Phase des Regisseurs, in der er seine eigenen Filme und Vorstellungen dekonstruiert und hierdurch über seine Rolle und seine eigenen Filme sinniert.
Mit IL SOL DELL’AVVENIRE kehrt Moretti im Jahre 2023 mit fast 70 Jahren schließlich zu einem stilistischen Ton zurück, den er vor allem mit den Apicella- und den Nanni-Filmen der 70er bis 90er Jahre perfektionierte, inklusive eines stellvertretenden Alter Egos im Film. IL SOL DELL’AVVENIRE erzählt von einem erfolgreichen Regisseur – hier wird eine Parallele zu SOGNI D’ORO geschaffen – und dessen Problemen bei der Umsetzung eines Projekts. Dabei plagen ihn sowohl persönliche Krisen wie die Trennung von seiner Frau, als auch die sich durch Streamingdienste wie Netflix wandelnde Filmkultur.
Würde der Protagonist nicht Giovanni heißen, könnte er auch genauso gut Nanni oder Michele heißen. Giovanni spricht mit Leuten und drückt ihnen ungefragt seine Meinung auf wie Nanni es in CARO DIARIO tut. Giovanni ist neurotisch, exzentrisch und weist narzisstische Charakterzüge auf, die ihn kaum von Michele Apicella oder der Filmfigur Nanni Moretti unterscheiden. Es scheint so, als hätte Moretti mit seinem neuesten Film einen Bogen zu seinen früheren Werken geschlagen, was nicht zuletzt auch durch die Gestaltung des Filmplakats vermutet werden darf. Der gezeichnete Nanni Moretti auf einem roten E-Scooter vor einem weißen Hintergrund mit einem roten Schriftzug erinnert an CARO DIARIO. Der bemerkenswerte Unterschied ist, dass sich nicht nur das Vehikel Morettis verändert hat, E-Scooter statt Vespa, auch blickt der neue Moretti nach vorn, während er in den 90ern noch von uns, den Zuschauenden, wegfuhr. Er ist mit der Zeit gegangen und blickt in die Zukunft. Diese Art der Reflexion über sein eigenes Kino war ihm vermutlich nur möglich, da er sich in den vorangegangenen Filmen von ‚Nanni Moretti‘ und ‚Michele Apicella‘ gelöst hatte, sodass IL SOL DELL’AVVENIRE als Kulmination der Filme seit der Jahrtausendwende verstanden werden kann.
Was Giovanni in IL SOL DELL’AVVENIRE von Michele und Nanni unterscheidet, ist die Hoffnung und ein gewisses Maß an Optimismus. Gleichwohl immer noch auf der Suche nach sich selbst und stets kritisch in Bezug auf politische, gesellschaftliche und vor allem filmische Entwicklungen, findet Giovanni etwas Schönes darin, nach vorne zu blicken und sich diesen Problemen zu stellen. Und um das zu feiern, tanzen am Ende des Films alle zu Franco Battiatos Hit ‚Voglio Vederti Danzare‘, zu dem Moretti und sein Team schließlich auch bei der Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes 2023 auf dem roten Teppich tanzend das Kino und das Medium Film feierten.
Wird Nanni Morettis Gesamtwerk betrachtet, lässt sich feststellen, dass die Autofiction, die der Regisseur in CARO DIARIO und APRILE umsetzen konnte, erst durch sein Alter Ego Michele Apicella möglich war. Es wirkt beinahe so, als würde Moretti in seinen früheren Filmen eine Version von sich entwerfen, in der er all seine Gedanken unverblümt, ungeschönt und überhöht einsetzt, nur um von Film zu Film immer mehr dieser Schichten abzustreifen, bis sich der ‚echte‘ Moretti zu erkennen gibt. Mazierska und Rascaroli bezeichnen Apicella als Nanni Morettis „unangebrachte Version“ [Übersetzung des Verfassers] (2004: 29). Dabei werden Apicella natürlich nicht nur Schichten und Charaktereigenschaften abgestreift, um auf den Kern zu kommen, sondern auch Feinschliffe gewisser Charakteristika vorgenommen.
Während Michele nach Einheit und einem Sinn im Leben sucht, kann Nanni lernen, glücklich mit dem zu sein, was er hat. Als Regisseur gibt Nanni Moretti seinem Alter Ego – in CARO DIARIO und APRILE dann schließlich als Nanni Moretti benannt – das Familienglück und die Erkenntnisse, die Apicella in den Vorwerken so verzweifelt gesucht hatte. Indem er Michele durch verschiedene Jobs und Lebenssituationen laufen ließ und dabei verschiedene Biografien entwarf, scheint es so, als hätte er sich selbst auf die Suche nach sich begeben und schlussendlich gefunden. So verschmelzen Moretti und Apicella schließlich.
Seit der 2000er-Wende dekonstruiert Moretti das Glück, welches er seinem Alter Ego im Film APRILE gegeben hat, indem er es ihm, nun Giovanni genannt, gewissermaßen wieder nimmt und ihn sich neue Herausforderungen stellen lässt. Gleichzeitig hinterfragt er die Dinge, die Michele Apicella in den 70er- und 80er-Jahren so vehement gesucht hat. Er entfernt sich von seinem humorvollen Stil, von seinem Alter Ego und kehrt schließlich mit IL SOL DELL’AVVENIRE zu dem zurück, was seine Filme einst ausgemacht haben. Er spielt einen Mann, der in einer sich stets weiterdrehenden Welt auch als etablierter Regisseur immer noch auf der Suche nach sich selbst ist.
Im Sinne der Autofiction verschleiert Moretti durch das Erschaffen eines Alter Egos gekonnt, welche Charaktereigenschaften zu seiner realen Person gehören und welche er des dramaturgischen Zwecks wegen einsetzt. So sind Michele und Nanni neurotisch, exzessiv, aggressiv, von Schuhen und der Sachertorte besessen und suchen nach einem Platz in der Welt, indem sie ihre eigene Rolle als Mann in einem sich modernisierenden Italien hinterfragen. Moretti nutzt sich selbst, seine Reputation, sein Alter Ego und seine anderen Filmcharaktere, um zeitgenössische Themen anzusprechen. Er verankert sich somit im soziopolitischen Zeitgeist und positioniert sich mit jedem Alter Ego, ob Michele, Nanni oder Giovanni, von Film zu Film neu.
Benannt nach seiner Mutter Agata Apicella (vgl. Mazierska/Rascaroli 2004: 8).
Moretti hat in Rom ein eigenes Kino, welches nach der Sachertorte benannt ist, Nuovo Sacher. Außerdem hat er ein Filmfestival ins Leben gerufen, welches nach der Sachertorte benannt ist: Sacher Festival, und auch seine Produktionsfirma heißt Sacher Film.
Nanni Moretti selbst hat eine Zeitlang professionell Wasserball gespielt.
Autobiografische Aspekte sind die Schwangerschaft von Silvia, Morettis Frau, und die Geburt des gemeinsamen Sohnes Pietro.
Der Begriff Autofiktion wurde vom französischen Schriftsteller Serge Doubrovsky in dessen Essay CORNEILLE ET LA DIALECTIQUE DU HÉROS (1963) geprägt (vgl. Neue Züricher Zeitung 2003).
Klar als linkspolitisch positioniert, empfanden Fans die aktivistische Initiative als logische Konsequenz seines filmischen Alter Egos, seiner Filme und seines Daseins als Filmschaffender, die ebenfalls politisch eingefärbt sind. Kritische Stimmen wiederum empfanden Morettis politischen Aktivitäten in den frühen 2000er-Jahren als narzisstische Wichtigtuerei und grenzüberschreitend: „Der Künstler sollte seinen Platz kennen und sich nicht mit Diskursen abseits des als ‚künstlerisches Feld‘ wahrgenommenen Bereichs befassen“ [Übersetzung des Verfassers] (Mazierska/Rascaroli 2004: 8).
Moretti stellt Apicella so dar, dass sein Talent zweifelhaft ist. Ständig sucht er bei befreundeten Personen nach Anerkennung und Bestätigung und lehnt das Massen-Kino ab, indem er einen anderen jungen Regisseur dafür verurteilt, dass dieser ein (politisches) Musical drehen wolle. Vielleicht handelt es sich bei den beschriebenen Charakterzügen um Unsicherheiten und Minderwertigkeitskomplexe Morettis bzgl. seiner Fähigkeiten, die er in genau dieser Weise hat zum Ausdruck bringen wollte.
In LA MESSA E FINITA spielt Moretti zwar einen Charakter, der Don Giulio heißt, dieser weist jedoch typische Charaktermerkmale Apicellas auf wie etwa sein neurotisches Verhalten, Aggressionen und die Suche nach einem Sinn. Moretti selbst gibt zu, dass Giulio als Priester durchaus auch eine Inkarnation Micheles sein könnte, da sich Priester oft einen neuen Namen gäben. Er lässt zwar offen, ob Giulio tatsächlich einer von vielen Micheles ist oder nicht, dennoch wird der Film von Mazierska und Rascaroli in die Riege der Apicella-Filme eingeordnet (vgl. 2004: 70).
In vieren dieser Filme trägt die Rolle, die von Moretti gespielt wird, den Namen Giovanni: LA STANZA DEL FIGLIO, MIA MADRE, TRE PIANI und IL SOL DELL’AVVENIRE. Es handelt sich bei Giovanni um Morettis bürgerlichen Namen. Nanni ist lediglich ein Spitzname, eine in Italien gängige Kurzform von Giovanni. In IL CAIMANO spielt er noch einmal Nanni Moretti, allerdings als Nebenrolle. Lediglich HABEMUS PAPAM fällt aus der Reihe, darin spielt Moretti einen Psychoanalytiker eines anderen Namens.
Ein Job, den sein filmisches Alter Ego in HABEMUS PAPAM erneut aufgreifen wird.
Zusätzlich zu seinen eigenen Regie-Werken spielt er auch als Schauspieler in Filmen anderer Regisseuren mit, was sicherlich eine spannende Ergänzung zu meiner Analyse darstellen könnte.
Auch wurden Morettis eigenes Auto beim Dreh genutzt, das Bücherregal seiner Eltern und die tatsächlichen Kleider, die Morettis Mutter Agata im Krankenhaus trug, werden im Film von Schauspielerin Giulia Lazzarini, die Giovanni und Margheritas Mutter spielt, getragen (vgl. Pulver 2015).
Moretti hat einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, die womöglich als Inspiration für die Rolle des Giovannis dienten.
„Über uns“ von Eshkol Nevo aus dem Jahr 2015.
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