Giftmotiv und Vermischung im frühen deutschen Kino
Das Motiv des Giftes lässt sich bereits in den Anfängen des Frühen Kinos im Film festmachen, doch enzieht es sich durch dessen prekäre Kopienlage. Seine Ungreifbarkeit wirkt darin ganz ähnlich dem scheinbar nicht darstellbaren Gegenstand des Giftes (vgl. Klippel 2013: 93-115).1 Es handelt sich bei meiner Beschreibung der historischen Entwicklung des Giftmotivs in Deutschland um eine Art Rekonstruktion des Zeitraums 1909-24 anhand der deutschen Filmzeitschrift Der Kinematograph, einer der ersten größeren Fachzeitschriften Deutschlands seit 1907.2 Von den hier besprochenen Filmen sind nicht mehr als 5% noch erhalten, von den frühen so gut wie gar keine mehr.
Anhand der Lektüre dieser Zeitschrift das Vorkommen eines Motivs zu rekonstruieren, bleibt daher ein spekulativer – oder sollte ich sagen phantomarer – Versuch, sich einer grundlegenden Entwicklung zu Beginn des Kinos anzunähern. Diese Entwicklung möchte ich in ein Verhältnis zu einem theoretischen Begriff, dem der Vermischung setzen – der Vermischung von Zuschauer und Leinwand und untereinander im Frühen Kino und in aktueller Filmtheorie.
Kino wurde in seinen Anfängen nicht nur als begeisternde Attraktion und faszinierendes Spektakel wahrgenommen, sondern war ebenso als bedrohlich, teuflisch, in gewissem Sinne als ›giftig‹, verschrien. In Deutschland wetterte in den Jahren der Etablierung des Kinos vor allem die bürgerliche Bewegung der Kinoreformer3 gegen die Auflösungserscheinungen, denen die ZuschauerInnen durch das Kino ausgesetzt waren. Eine Verteufelung des Kinos fand aber laut Tom Gunning, der sich in seinem Essay »flickers« mit dem Gerichtsbeschluss des U.S. Supreme Courts durch den Richter McKennas auseinandersetzt, ebenso in Amerika statt. Dieser Beschluss, der laut Gunning von 1915 an grundlegend die Pressefreiheit des Kinos einschränkte, sollte bis 1952 aufrecht erhalten werden – für ihn eine Verweigerung des Privilegs der Freien Sprache für das Kino, die Filmzensur legalisierte (vgl. Gunning 2004: 22). Im Unterschied zu literarischen Schriften beinhaltete das Kino für das Gericht nämlich nicht nur verteufelte Inhalte, sondern wurde als »essentially evil« (ebd.) aufgefasst.
Die teuflische Bedrohung durch das Kino aber war vor allem eine der Vermischung. Diese herrscht im Kino generell, unabhängig von der Art der Filme. Der Raum der frühen Ladenkinos selbst, als ein dunkler stickiger Raum, war ein Ort der Gerüche und der Sexualität. Die ZuschauerInnen vermischten sich untereinander, die Geschlechter und die Schichten. Die nach Miriam Hansen in Bezug auf das amerikanische Kino beschriebene »alternative public sphere« (vgl. Hansen 1991: 90-125) vermischte die Klassen, »comprising the working-class patrons and women and children of all classes« (Gunning 2004: 23)– und bedrohte dadurch die Bürgerschicht. Laut Gunning war es gerade die Vermischung der ›niederen‹ Schichten, welche die Bedrohung ausmachte, schließlich galten diese Schichten wegen ihrer Ungebildetheit als besonders anfällig für ›teuflische‹ Mächte. Es ist für ihn die Angst des bürgerlichen weißen Mannes, die gegen das Teuflische des Kinos einen Ruf nach Zensur laut werden lässt.
»The intense effects of motion pictures frequently triggered involuntary physical reactions (jolts, screams, and – less reliably – fainting) in viewers unfamiliar with the new medium, but the effects could also be described more psychologically and more sinisterly. This visually vivid novelty, some reformers and journalists claimed, exerted undue Influence on its audience, an attraction compared to bewitchment, hypnosis, casting a spell, or putting the viewer /audience into a trance«. (Curtis in Gunning 2004: 25)4
Man könnte auch sagen, es wirkte wie Gift! Überhaupt gab es einen Zusammenhang zwischen der neuartigen Zerstreuung im Kino und der »Vergiftung« durch die unaufhaltsamen Veränderungen der Moderne. Die Filmwissenschaftlerin Petra Löffler hat sehr schön die Desorientierung der ZuschauerInnen im Frühen Kino beschrieben, die teilweise durch die Filme beabsichtigt war. Die unklaren Grenzen des Raumes (vgl. Löffler 2014: 227), die Schwindelexperimente, die alle Sinne erfassen, wurden über die Körper der ZuschauerInnen vermittelt (vgl. ebd.: 250). So vermögen die ZuschauerInnen von Dream of a Rarebit Fiend (USA 1907) durch Kamerabewegungen und Doppelbelichtungen den Alkoholrausch, den sich der übermäßig völlende Protagonist zuzieht, physisch zu erfahren. Sie begleiten ihn auf seinem schwankenden Heimweg und fliegen mit ihm in seinem Bett in schwindelnde Höhen.
Während zeitgenössische Mediziner vor dem Kinematographen warnten, allein das flackernde Filmmaterial löse bereits Schwindel aus (Gaupp 1912),5 priesen andere gerade diesen Schwindel als Zerstreuung, wie zum Beispiel Siegfried Kracauer in seinen Essays. Das Kino als Ort einer taktil-optischen Wahrnehmung des möglichen Austauschs des Publikums mit der Leinwand, so die progressiv affirmative Haltung Kracauers, berge gerade in der passiven Aktivität des zerstreuten Gaffens ein Potential, eine Möglichkeit der Veränderung (Löffler 2014: 319).6
Der Verdacht der Kinoreformer richtet sich genau gegen diese Möglichkeit. In Gunnings Schilderung des Gerichtsbeschlusses zeigt er sich als Verdacht gegen das Bild, das keine Kontrolle wie der schriftliche Text erlaubt. Doch zielt die Angst McKennas nicht allein auf die Irrationalität des Visuellen, sondern auf der Sensationsgier. Die Magie des visuellen Apparates, die Lust an der Täuschung, stelle einerseits die Realität in Frage (Gunning 2004: 29) – aber das teuflische liege andererseits in der »direct address to the passions, its ability to excite whether sexually or politically« (ebd.: 33). Die Anklage des Richter gegen das Kino richte sich gegen seine »capacity for evil … The fascination of visual uncertainty remains a potentially dangerous force.« (Ebd.: 30, 31)7
Das Verbot gegen die freie Rede des Kinos richtete sich gegen eine Macht, die die Ratio überwältigt und nahm damit den Zuschauern ihre rationale Automomie. Gerade dieses Vorgehen kann nach Gunning aber umgekehrt als teuflisch verstanden werden: »a modern conception of evil: a power exceeding and possibly overwhelming reason, a power that institutions of power respond to by invoking authoritarian control.« (Ebd.: 35)
Das Teuflische des Kinos hat für ihn (in Anlehnung an die Schriften Batailles) eine Intensität, die sich an die »untamed excessive instincts of children« richtet (ebd.: 36). Gerade dieses Teuflische des Dunklen ist damit zugleich als Licht zu sehen – das Gift des Kinos ist immer ein Pharmakon, Gift und Heilmittel zugleich.8
Kein Wunder daher, dass das Gift vor allem im Frühen Kino ein fester Topos zu sein scheint. In diesem Zusammenhang kann das Giftmotiv als eine Art Spiegelung des Geschehens bzw. der Bedrohung durch den Apparat gesehen werden. Doch ist dieses Motiv, das sich im Laufe der Filmgeschichte vor allem in Filmen mit bösartiger, heimtückischer Vergiftung durch Giftmord zeigt, zu Beginn des Kinos noch schwieriger zu fassen als im späteren ausdifferenzierten klassischen Kino. Er scheint im Gegensatz zum Melodrama der 40er Jahre nicht fest an strikte Stereotypen eines Genres wie das der bösartigen, ›giftigen‹ Frau im film noir gebunden zu sein und schwebt eher im breiten Problemfeld der Ehre, des Ehrgeizes und der romantischen Liebe. Die generellen Schwierigkeiten der Visualisierung des Giftes, sein sich entziehender Charakter als prekäres Objekt, scheinen im Frühen Kino noch grundlegender zu Gewicht schlagen. Vor allem aber kreist der Topos des Gifts im Frühen Film generell um das Problem der Sichtbarmachung: Das Verhältnis des Giftmotivs zur Problematik der Sichtbarkeit kommt im Frühen Kino noch einmal anders zur Geltung, wird direkter in Szene gesetzt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das noch ganz junge Medium Film auf der Suche nach seinen Formen und Inhalten. Mit dem Motiv des Giftes stellt es sich einer besonderen Herausforderung: einerseits etwas sichtbar zu machen, das sich dem Blick entzieht, wie das flüchtige immaterialle Gift, andererseits im Kino den Prozess der Vergiftung auf der medialen Ebene zu verdoppeln: zugleich das Opfer im Film und die Zuschauerinnen im Kino zu vergiften. Das Motiv des Giftes spiegelt damit die Ambivalenzen des Mediums Film. Es ist flüchtig, immateriell und imaginär im Film, wirkt aber gleichzeit physisch auf die ZuschauerInnen im Kino.
Die bisher von mir gesichteten Frühen Filme mit Giftmotiv zeigen ein ambivalentes Verhältnis zwischen bekannten, dort bereits bestehenden Stereotypen für die Darstellung des Gifts, das sich scheinbar nur indirekt fassen lässt – zum Beispiel durch auffällige Gefäße, dem Giftring oder dem Fläschchen – und einem anderen Umgang mit diesen Stereotypen, der anderen Ästhetik des Frühen Kinos, die diese Gegenstände anders in Szene setzt.
Gift als Insert bekommt hier eine eigene Dinghaftigkeit. Wiederholen sich auch später immer wieder die stereotypen Gefäße, die auffälligen Gläser, die alltäglichen Tassen, werden diese Gefäße hier klarer als im Klassischen Kino in den Raum gestellt. Es wird deutlicher damit gespielt. Sie werden gesucht, versteckt, gedreht, betrachtet und den ZuschauerInnen direkt gezeigt.
Aber auch umfassendere Zusammenhänge des Giftmotivs wie Konnotationen von Exotik und Kolonialismus tauchen von Anfang an auf – hier meist in der Kombination mit sehr aufwendigen giftigen Ringen, die für ein geheimes Wissen des Orients stehen.9 Sexualität und Leidenschaft oder Eifersucht werden in Melodramen wie Die Geliebte des Herzogs (GB 1913), unheimliche Verschwörungen in Krimis wie Der gestreifte Domino (D 1915) von Anfang an sichtbar. Das Gift ist dabei vor allem an Schwäche, Verzweiflungstaten und Liebe gebunden, doch noch nicht so sehr an die heimtückische Intrige und anmaßende Machtgier.
Innerhalb der 15 von mir untersuchten Jahre des Kinematographen ist das Giftmotiv nicht nur eine Art Spiegel der Filmgeschichte im Miniaturformat, sondern immer auch des politischen Geschehens. Eine Verfolgung der Veränderung des Motivs wirkt wie ein Zeitraffer des historischen Ablaufs:
1909 gab es vor der Etablierung des Spielfilms noch kaum Filmbesprechungen – die Filme werden nur kurz als mögliche Teile eines Programms aufgeführt. Sie sind nach dem Filmwissenschaftler André Gaudreault noch Teil eines zeigenden Kine-Attraktions Theaters, vor der Etablierung des Dramas im Kino (vgl. zur »Kine-attractography« Gaudreault 2011). Die Rubrik »Neue Films« folgt innerhalb der Zeitschrift erst auf »Neue Patente« und auf »Aus dem Gerichtssaal«. Aus dem gedruckten Material können daher noch keine Rückschlüsse auf das Giftmotiv gewonnen werden.
Von 1910 an gibt es dann schon viel mehr und längere Filmbesprechungen, ihre Position rückt im Heft nach vorne und das Giftmotiv lässt sich eindeutiger identifizieren. Die meisten Giftmorde geschehen allerdings nicht in deutschen Produktionen sondern in französischen Filmen (Eclipse) und sind dort meist Teil von historischen Phantasien.
Der Schwerpunkt der Griftmorde liegt bei Selbstmord und Rache, es handelt sich kaum um böswilligen, geplanten Mord, wie er eigentlich dem Gift zugeschrieben wird (außer natürlich bei den dem literarischen Kanon folgenden Historienfilmen).Bald verdoppelt die Zeitschrift ihren Umfang und es ist in den Beschreibungen doppelt so viel Gift zu finden – auch aus Deutschland. Nun kommt der Detektivfilm dazu und damit gerät der Giftmord in ein Verhältnis aus Spannung und Konstruktion. Wieder ist der fanzösische Film mit der Produktionsfirma Eclipse hier tonangebend mit seiner Pinkertonreihe.10 Thematisch beginnt sich der Zusammenhang von Kolonialismus und Gift zu entwickeln, meist in Bezug auf Indien. Als Beispiel wäre hier zu nennen: Drei Tropfen Gift – aus dem Seelenleben einer Inderin (D 1913) von Franz Hofer.
Mit Beginn des ersten Weltkrieges kommen Motive des Scheintodes und des langsamen Gifts hinzu sowie heimtückische Giftpfeile. Das Verhältnis von Gift und Medizin beginnt sich thematisch zu entwickeln.
1915 fängt der erste Weltkrieg an, direkter auf das Giftmotiv einzuwirken: Vererbung, bzw. giftiges Blut sind nun ein in den Vordergrund tretende zentrale Themen. Dieses Thema wird bald als wissenschaftliches Drama konkretisiert. Insgesamt finden sich in dieser Zeit die meisten Giftfilme unterschiedlichster Art.
Während in der zurückgenommenen Produktion gegen Ende des Krieges Gift nur einmal auftaucht und dort auch nicht mehr zur Wirkung kommen darf, gibt es im allerletzten Kriegsjahr viele deutsche Giftfilme. Nun ist der Giftmord an Moral und Geschlechtskrankheiten gebunden.
Nach dem Krieg werden die Kriegsgifte Opium und Morphium Thema, sie werden eher als Gift, denn als lindernde Droge behandelt. Allerdings zeichnen sich diese Filme durch prachtvolle Rauschphantasien aus, die die traumartigen Möglichkeiten des Mediums in den Vordergrund stellen. Ebenso werden nun Tropen und Malaria neues Thema. Das Giftmotiv sinkt in psychologische Untiefen. Unzucht führt ebenso wie die Fremde zu Giftselbstmord, bevor sich phantastische Monumentalwerke, aber auch Komödien (Lubitsch) und psychologische Kriminalgeschichten des Giftes widmen.
1921 beginnt der Autorenfilm das Giftmotiv aufzugreifen und einzuverleiben, Murnaus Gang in die Nacht (D 1921) und Asta Nielsens Hamlet (D 1921) sind hier bekanntere Beispiele, die das Giftmotiv in die Narration integrieren und dadurch verdecken. Oft gibt es nun Rettung vor dem Gift zum Beispiel durch Bechertausch oder falsche Wetten, aber auch den satanischen Zusammenhang und langsame Vergiftungen, die Bluttausch nötig macht. In diesem Jahr findet sich ein Höhepunkt an Giftproduktionen, die Filme aller Genres ausmachen.
Von da an wird das das Giftmotiv zunehmend in ›das Individuum überwältigende‹ Konstruktionen integriert: Fuhrmann des Todes (D 1921) oder Dr. Mabuse (D 1922), Haus ohne Tür und Fenster (D 1921) wären hier Beispiele. Zu dieser Überwältigung gesellt sich zunehmend die Frage der Schuld.
Ab 1924 scheint das Giftmotiv kein interessanter Schwerpunkt mehr zu sein, es finden sich im Kinematographen keine Filme mit Giftmotiv mehr, bis schließlich eine Ersetzung des Motivs durch den Zusammenhang Großstadt, Girls und Drogen stattfindet.
Generell kann für die Filme der untersuchten Phase von 1910-1925 nicht wie im klassischen Kino von einer eindeutigen Zuordnung des Gifts auf das Geschlecht gesprochen werden. Der Schwerpunkt liegt eher auf der Überwältigung durch die Situation und dem Gift selber. Eine Verschiebung des Motivs auf die Giftmörderin, um es visuell greifbarer zu machen, findet nicht statt. Es scheinen eher die Umstände zu sein, auf die sich die Visualisierung des Motivs teilweise verschiebt.
Das Giftmotiv spiegelt einerseits die Problematik der Sichtbarkeit des Flüchtigen, andererseits aber die Bedrohung des Publikums durch das Kino selbst. Giftig ist die Vermischung des Wahrgenommenen mit den ZuschauerInnen, die im Kinosaal stattfindet. Doch dieses Gift kann im Sinne des Phamakons auf unterschiedliche Arten aufgenommen werden:
So wirkt Film nach Bernard Stiegler als mediale Aufmerksamkeit und damit als das Gedächtnis tilgendes Pharmakon. Er macht aber auch, wie Siegfried Kracauer dagegen schreibt, körperliche Wahrnehmung möglich, die sich mit dem Wahrgenommenen vermischt, das Subjekt erweitert und mit seiner eigenen Objekthaftigkeit konfrontiert.
Stiegler überträgt in Denken bis an die Grenzen der Maschine Platons Ablehnung der Schrift als Pharmakon auf den Film. Es sei aber nicht die Schrift an sich, die laut Stiegler giftig sei, da der Mensch als notwendig prothesenhaft und immer schon technisch diese für sein Gedächtnis benötige (vgl. Stiegler 2009: 57). Wirklich giftig sei für den Menschen der Film als Zeitobjekt, wie Stiegler mit Bezug zu Husserl argumentiert. Filmische Eigenschaften wie exakte, unbegrenzte Speicherung und Schnitt tilgten die Syntheseleistung der Wahrnehmung. Ihre Flussstruktur sei schon wie die Synthese des Bewusstseins, synchonisiere dadurch Schreiber und Leser und ersetze die Leistung des Bewusstseins (ebd.: 71, 72).
Doch kann anders als bei Stiegler gerade diese Tilgung auch positiv gewertet werden. So findet nach Claudia Preschl vor allem im Frühen Kino eine Vermischung der Körper der ZuschauerInnen miteinander und mit den DarstellerInnen durch Lachen statt. Es sei dies ein ansteckendes soziales Lachen, das die Möglichkeit beinhalte, dem »Anpassungsdruck zumindest für Momente zu entkommen« (Preschl 2008:6).
Ganz ähnlich sieht Heide Schlüpmann das Frühe Kino als einen positiven Ort der Auflösung der patriarchalen Strukturen durch Vermischung: »Das Kino war ein Ort, in dem sich populäre Kulturen mischten: die Kulturen des Lachens, der Liebe, des Scheins.« (Schlüpmann 2004:109) Andererseits bietet für sie der Kinoraum auch Schutz, Schutz vor den Zwängen der Zweckrationalität und dadurch die Möglichkeit einer anderen Wahrnehmung. In dieser anderen Wahrnehmung verbirgt sich ein erkenntniskritisches Potential. Sie bezieht sich darin auf Kracauer, der hierin die Möglichkeit der Konfrontation mit der eigenen Dinghaftigkeit sieht. Diese Möglichkeit ist ambivalent, ein Pharmakon. Kracauer bringt sie vor allem in seinen Marseiller Skizzen zu einer Theorie des Films auf den Punkt:
»Vordeutend: Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel, er versetzt zum ersten Mal [....] das Seiende in Umtrieb. Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. Der Abhub interessiert ihn, das, was da ist – am Menschen selber und außerhalb des Menschen. Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: ›Danse macabre‹. Zu welchem Ende? Das wird man sehen.« (Kracauer 2005 [1940/41]: 531)
Das Gift des Kinos als Pharmakon wäre in diesem Sinne als Erweiterung, als Vektor für die Aufsprengung des Subjektpanzers zu denken. Ein Austauschprozess im positiven Sinne wird möglich.
Diesem Austauschprozess liegt eine andere Wahrnehmung jenseits der Herrschaft des Visuellen zugrunde, die sich aus phänomenologischer Perspektive als haptisch beschreiben lässt. Es ist diese haptische Wahrnehmung, welche die Problematik der Sichtbarkeit auf die ›giftige‹ Weise der Vermischung umgeht. Nach Laura Marks gibt es über haptische Wahrnehmung im Kino die Möglichkeit des körperlichen Austauschs mit dem über die Kamera Wahrgenommen. Dieses wird körperlich wahrgenommenen, aber nicht visuell angeeignet, denn es entzieht sich der eindeutigen Sichtbarkeit.
»Haptic images can give the impression of seeing for the first time, gradually discovering what is in the image rather than coming to the image already knowing what it is. […] By engaging with an object in a haptic way, I come to the surface of my self (…), losing myself in the intensified relation with an other that cannot be possessed.« (Marks 2000: 178, 184)
Für den Philosophen Michel Serres, der sich leider nicht direkt zum Kino äußert, liegt hierin eine notwendige Erkenntniskritik begründet. Alles Wahrgenommene ist zu »unsauber«, zu vielschichtig, für eine tatsächliche rationale Analyse. Immer besteht für eine Annäherung an das Wahrgenommene die Notwendigkeit der Vermischung. Für ihn ist daher das eigentliche Organ der Wahrnehmung nicht das Auge, sondern die Haut:
»Die Haut ist eine kontingente Mannigfaltigkeit; in ihr, durch sie und mit ihr berühren die Welt und mein Körper einander, das Empfindende und das Empfundene; sie definiert deren gemeinsame Grenze. Kontingenz meint nichts anderes als gemeinsame Berührung […] die Dinge vermischen sich miteinander und ich bilde darin keine Ausnahme; ich vermische mich mit der Welt, wie sie sich mit mir vermischt.« (Serres 1989 [1985]: 103)
Das Auge dagegen steht der Vermischung noch zweifelnd und sezierend gegenüber, lehrt doch die Wissenschaft, Misstrauen gegenüber den Sinnen. Aber es sind für Serres nicht die Sinne, die täuschen, sondern das Wort und die analysierende Vernunft, die zu einer »Wahrnehmungskatastrophe« führen, da sie das Gemisch nicht wahrhaben wollen (vgl. ebd.: 338). »Diskurs und Abstraktion bleiben hinter dem Körper zurück, der zu tun und zu praktizieren versteht, was der Mund nicht zu sagen vermag.« (Ebd.: 348) Es geht Serres um eine noch zu schaffende, zukünftige Philosophie der Mischung, eine Philosophie, die sich von einem »Diskurs [löst], dem es um Sonderung und Reinheit geht und der gleichfalls in der abscheulichen, tödlichen Leidenschaft der Zugehörigkeit gefangen ist.« (Ebd.: 347)
Und das Kino? Könnte es nicht gerade in seiner Ambivalenz der Ort für diese Philosophie werden? Derrida, hat die Übersetzung des Begriffs »Pharmakon« als Gift ›oder‹ als Heilmittel als Effekt der sezierenden Analyse interpretiert (vgl. Derrida 1995[1968]: 110). Das Pharmakon sei jedoch stets heilsam ›und‹ giftig zugleich, sei »stets in Mischung begriffen«. (Ebd.: 111)
Das Kino wiederum, als ›magischer‹ Ort, ist stets Pharmakon – es ist ebenso immer giftig und heilsam zugleich. Zumindest aber bleibt es stets ein Ort der Vermischung.
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