„Über Länder und Meere verfolgt das Auge der Filmreporter die Ereignisse der Zeit und zeichnet danach das lebendige Gesicht unserer Epoche.” So führte Anfang 1950 der Sprecher der ersten Ausgabe der NEUEN DEUTSCHEN WOCHENSCHAU (NDW) in die Berichterstattungsziele ein. Zu einer Bildkomposition mit zahlreichen Überblendungen von Denkmälern, westeuropäischen Wahrzeichen, amerikanischen Wolkenkratzern, Schiffen und Industrieanlagen sowie Impressionen aus Sport und Kultur erklingt eine lebhaft antreibende Musik.1 „Wir wollen den Atem der Zeit bannen, wir wollen im Rhythmus und Tempo dieses Jahrhunderts die lebendige Geschichte unserer Tage im Bilde festhalten”, sagt der Kommentator. Die Zuschauer dieser ersten Ausgabe der ersten „unabhängigen” Wochenschau nach dem Zweiten Weltkrieg sahen zudem eine Montage aus Vorgängen der Filmproduktion.2
Bevor sich das Fernsehen als Massenmedium etablierte, war die Wochenschau eine bedeutende audiovisuelle Informationsquelle für aktuelle Ereignisse und Entwicklungen im In- und Ausland. Sie war Bestandteil einer jeden Kinovorstellung und wurde bis in die 1970er-Jahre im Vorprogramm gezeigt. In der Wochenschau wurde jedoch nicht nur die Gegenwart betrachtet, sondern sie beschäftigte sich auch mit der Vergangenheit – in Form von einzelnen Bildern oder kurzen Sequenzen bis zu aufwändigen Jahres-Retrospektiven in Berichtslänge. Und auch das aktuelle Zeitalter wurde zum Gegenstand des Erzählens. Darunter sind solche Ereignisse und Vorgänge, die wir als ‚historisch bedeutsam‘ kennen – aber ebenso viele, die nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind.
Die Wochenschau war zwar keine Chronik und hegte auch keinen Anspruch auf Lückenlosigkeit, doch schuf sie durch den Rhythmus der wöchentlichen Produktion ein großes Archiv an Erinnerungsmaterial. Mit Michel Foucault gesprochen, ist ein Archiv kein statischer Speicher, sondern ein System, durch das Aussagen über die Zeit und Vergangenheit erst möglich werden (vgl. Foucault 1969/1988: 188). Transferiert man Foucaults Ansatz auf die Wochenschau ist die Selektion der Darstellung durch das Medium zu bedenken: Nur solche Ereignisse, die die Redaktion als berichtenswert ansah und die unter den gegebenen damaligen Umständen aufgenommen werden konnten, finden sich im ‚Archiv‘ der Wochenschauen. Von Beginn an wussten die Wochenschau-Unternehmen den eigenen Filmbestand und den ausländischer Wochenschauen zu nutzen, um Bildmaterial auf vielfältige Art zur Darstellung verschiedener Zeitebenen zu montieren. In den kurzen Berichten wurden oftmals dieselben Bilder und Sequenzen aus unterschiedlichen Anlässen in immer neue (zeitliche) Kontexte gesetzt und dabei neu vertont und kommentiert. Durch diese stetige Mehrfachverwendung entstanden Sinn- und Symbolbilder, deren Bedeutung sich im Laufe der Jahrzehnte durchaus ändern konnte. Kino-Wochenschauen boten zudem eigens zusammengestellte Rückblicke auf Ereignisse eines vergangenen Jahres. Auch heute noch tragen Jahresrückblicke von verschiedenen Medien zum kollektiven Gedächtnis bei, indem Vergangenes für folgende Generationen vorstellbar wird. Film- und Bildarchive sind häufig die Grundlage für Erinnerungsmedien oder Erinnerung in Medien. Durch das Heben der ‚Wochenschau-Schätze‘ sind neue Geschichts-Erzählungen möglich.
Die deutsche Nachkriegswochenschau (ab 1945/1946) hat in diesem Sinne eine hohe Bedeutung für die Erinnerungs- und Geschichtsbilder der lebenden und miteinander kommunizierenden Generationen, denn ihre Bewegtbilder werden in zahlreichen zeithistorischen Film- und Fernsehproduktionen genutzt. Der Wiederaufbau war, den Wochenschauberichten zu urteilen, zumindest in Westdeutschland bereits Mitte der 1950er-Jahre abgeschlossen3 und so musste eine zentrale Frage lauten, wie die Zukunft der nächsten Jahrzehnte gestaltet werden sollte. Im Folgenden wird zunächst auf die Charakterisierung der Nachkriegswochenschau eingegangen und am Beispiel ausgewählter Jahresrückblicke die Ausgestaltung ganz unterschiedlicher Zeitebenen durch die filmischen Elemente des Wochenschaufilms erläutert. Deren Rolle für die audio-visuelle Erinnerung und Geschichtsschreibung wird im Anschluss daran in den Blick genommen.
In Zeiten von Unsicherheit dienen mediale Rückblicke und Zukunftsvisionen zur mentalen Absicherung der Menschen. Zu sehen, woher man kommt und wohin es gehen könnte, trägt zur sozialen und historischen Orientierung bei. In der Zeit des Kalten Krieges übernahm die Kino-Wochenschau im geteilten Deutschland eine bedeutende Informationsvermittlungsfunktion und war ein Instrument der staatlichen Imagepflege in Ost und West.
Der westdeutsche Wochenschaumarkt war zunächst durch die Besatzungswochenschauen geprägt, deren Produktion jedoch schon bald in deutsche Hände überging. Ende 1949 wurde die Gründung der Neue Deutsche Wochenschau GmbH vom Bundespresseamt initiiert und die Produktion der NEUEN DEUTSCHEN WOCHENSCHAU (NDW) aus Bundesgeldern subventioniert4. Die Hamburger Produktionsfirma stellte zwei Wochenschauserien her, die im Laufe der Jahre umbenannt wurden: Die ehemals britisch-amerikanische Besatzungswochenschau WELT IM FILM wurde 1952 zur WELT IM BILD und 1956 zur UFA-WOCHENSCHAU (1968 nochmals umbenannt in UFA-DABEI, 1977 eingestellt) und die NDW wurde 1963 zur ZEITLUPE (bis 1969 produziert). Daneben existierten die private amerikanische FOX TÖNENDE WOCHENSCHAU (bis 1978) sowie die von Frankreich beeinflusste BLICK IN DIE WELT (1945 bis 1986). In der DDR wurde von der staatlichen Produktionsfirma Deutsche Film AG (DEFA) von 1946 bis 1980 DER AUGENZEUGE als einzige Wochenschau hergestellt (ab 1953 im DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme).5 Laut Günter Jordan war das gut gestaltete politische Sujet eine „Spezialität” des AUGENZEUGEN (Jordan 1990:93) um politische Aussagen direkt und indirekt positionieren zu können. Alle Wochenschauen waren von ästhetischen wie auch personellen Kontinuitäten geprägt, die sich aus der Produktion und Arbeit für die Wochenschau der 1930er- und 1940er-Jahre ergaben. Kameramänner, Schnittmeister*innen bzw. Cutter*innen (die Berufsbezeichnung der Nachkriegszeit) sowie Musikredakteur*innen, die für die Filmund Wochenschau-Unternehmen in nationalsozialistischer Zeit gearbeitet hatten (vornehmlich für DIE DEUTSCHE WOCHENSCHAU6), wurden bei der Nachkriegswochenschau weiterbeschäftigt.
Bis sich das Fernsehen in West- und Ostdeutschland als Massenmedium etablieren konnte, 7war die Wochenschau das ‚Fenster zur Welt‘. Filme von ausländischen Wochenschauen, mit denen Austauschverträge bestanden, waren ein elementarer Bestandteil. Die wöchentliche Zusammenstellung – bei der NDW war dienstags Reaktionsschluss – verhinderte weitgehend wirkliche Aktualität. Die Filmrollen wurden zudem in einem Staffelsystem von Kino zu Kino weitergereicht,8 sodass eine Ausgabe bis zu acht Wochen in Umlauf sein konnte. Da man die tagesaktuellen Nachrichten aus der Zeitung oder dem Radio erfuhr, musste es bei der Wochenschau um etwas anderes gehen: um das durch das laufende Bild erzeugte Gefühl des Dabeiseins zum imaginären Zeitpunkt des Geschehens. Jede Ausgabe war ein zehnminütiger Film mit einer schwankenden Anzahl von Berichten (etwa acht bis 15) in einer Mischung aus Information und Unterhaltung. Die Berichte waren mit Musik, Geräuschen und Kommentaren unterschiedlicher Tonalität ungelegt – von sachlichen Formulierungen bis zu ironischen Wortspielen. In die Berichte wurden unterschiedlichste Materialien eingearbeitet, z.B. abgefilmte Fotos als Standbild bis hin zu Trickfilmen. Wenn es darum ging, mit mehreren Zeitebenen umzugehen, verwendete man eigenes Archivmaterial, solches aus ausländischen Wochenschauen oder aus Dokumentarfilmen, das u.a. Uhren als Symbolbilder, Experteninterviews mit Zukunftsprognosen, gespielte Szenen, Animationen und gefilmte Modelle beinhaltete. Aktuelle Berichtsteile und Flashbacks wechselten sich oft ohne Ankündigung für die Zuschauer ab. Das Produktionsteam musste dafür sorgen, dass das Publikum diese Wechsel einordnen und ihnen folgen konnte.9
Die Formung der Zeit findet auf allen Ebenen und mit allen ästhetischen und strukturellen Mitteln statt: Nicht nur mit Bildern, sondern auch auf musikalischer Ebene ließ sich Zeit symbolisieren. Für futuristische Klänge wurde die Hammond Orgel verwendet und bekannte Melodien konnten für einen nostalgischen Eindruck sorgen. Schon im Standardwerk Allgemeines Handbuch der Film-Musik von Hans Erdmann, Giuseppe Becce und Ludwig Brav aus dem Jahr 1927 empfehlen die Autoren einen überlegt kalkulierten Einsatz von Musik, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.10 Man glaubte erkannt zu haben, dass eine Minute schon eine „ungeheuer lange Zeit” sei. Wenn Musik an der richtigen Stelle einsetzte, könne dies „ein Wunder” bewirken (Erdmann/Becce/Brav 1927: 16-17). 11 Der Sprechertext konnte mit Phrasen, wie „Zeichen unserer Zeit”, „moderne Zeit”, „Anno dazumal” zeitliche Einordnungen ausdrücken. Schnitt und Montage optimierten nicht nur Vorgänge im Film, sondern ermöglichten erst z.B. durch Auslassungen (Ellipsen) und zeitliche Raffungen, logische Zusammenhänge darzustellen. Eine Besonderheit der Wochenschau bestand in der intentional gewählten Reihenfolge der Sujets mit geschickt inszenierten Übergängen zwischen den Beiträgen. Auf diese Weise war ein rascher, aber verständlicher Wechsel zwischen Epochen oder Zeitabschnitten möglich, um Ähnlichkeiten oder Gegensätze zu präsentieren.
Die Präsentation von Zeit in der Wochenschau ist also auf verschiedenen Ebenen zu betrachten:
1. Produktionszeit: Die Wochenschau hatte den Anspruch so aktuell wie möglich zu sein, obwohl sie nur einmal pro Woche neu erschien. Durch die Staffeldistribution konnte es zudem vorkommen, dass eine Ausgabe bis zu acht Wochen12 in den Kinos gespielt wurde. Die Erwartung des Publikums an aktuelle audio-visuelle Informationen und ihre Akzeptanz der Wochenschau änderte sich durch das Fernsehen.
2. Zeitliche Filmkomposition: Ereignisse und Vorgänge konnten niemals in Gänze aufgenommen oder gezeigt werden. Die Kameramänner nahmen nur auf, wenn das Motiv für die Zuschauer:innen interessant sein konnte. Danach wurde durch Schnitt und Montage gestaltet, die Vorgänge komprimiert und Zeit gerafft. Durch Zwischenschnitte, z.B. von Umstehenden oder Publikum, wurden langatmige Szenen interessant verkürzt.
3. Filmische Zeitassoziation durch filmische Mittel – visuelle wie akustische: Musik, Geräusch, Kommentar (inklusive sprachlicher Ausdruck und Diktion, z.B. Redewendungen).
4. Thematische Zeitrepräsentation: Die Konkurrenz zwischen Ost und West mit dem Anspruch ganz Deutschland zu repräsentieren zeigt sich in den Zukunfts-Reportagen – aber ebenso in den Rückblicken und Erinnerung an ‚die gute alte Zeit‘.
Diese Ebenen wurden fast unmerklich für das Publikum verknüpft, um die Stories besser verfolgen und interpretieren zu können. Die Wochenschau ist durch die große Gestaltungsvielfalt ein Jahrzehnte überspannender Beitrag zu einer visuellen Geschichtsschreibung, obwohl sie keinesfalls ein filmisches Geschichtsbuch darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Art ‚Album‘ oder ‚Notizbuch‘, das vermeintlich wichtige Stationen und Ereignisse dokumentierend aufnehmen und in Bezug setzen konnte. Interessant ist, dass dabei auch ‚Zukunftsvisionen‘ entstanden.
Um in einem Wochenschau-Bericht13 zurückzublicken, gab es meist einen Anlass. In den 1950er-Jahren wurden Rückblicke auf die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Zeit dazu genutzt, den erfolgten Wiederaufbau hervorzuheben. In der westdeutschen Wochenschau waren – wie noch heute – Jahrestage ein Anlass zur Rückschau, aber auch aktuelle Kriegsverbrecher-Prozesse, wie der Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961 und der Wiederaufbau bedeutender Gebäude, wie der Reichstag in Berlin oder Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung. Die ostdeutsche Wochenschau DER AUGENZEUGE blickte z.B. auf den Zweiten Weltkrieg aus Anlass des Jahrestages der Gründung der DDR oder der Einführung der Agrarreform zurück. Die Rückblicke auf den Zweiten Weltkrieg dienten jedoch offensichtlich nicht vorrangig der Erinnerung, sondern wurden dazu genutzt, u.a. einen neuen Militarismus im ‚Westen‘ (d.h. vornehmlich die Bundesrepublik und USA) aufzuzeigen und den Westalliierten die Verantwortung für die Zerstörung ostdeutscher Städte zuzuweisen. Ein besonderer Blickpunkt war Berlin – die Wochenschau erinnerte an die Zerstörung der Stadt, um zugleich das moderne Berlin zu präsentieren. Ein Beispiel zeigt DER AUGENZEUGE Nr. 14 aus 1965, die Ausgabe blickt auf den Zweiten Weltkrieg zurück, indem Material der letzten Ausgabe der ‚alten‘ DIE DEUTSCHE WOCHENSCHAU zum Einsatz kommt – zwar erklärt der Sprecher den Sachverhalt, dennoch wurde der Original-Kommentar beibehalten. In dem Ausschnitt wird gezeigt, wie Bürger Berlins noch im April 1945 im Umgang mit einer Panzerfaust instruiert wurden. Dieser Rückblick macht deutlich, wie Zivilisten noch in letzter Minute aufgefordert wurden, einen sinnlosen Kampf zu führen und dabei dazu beitrugen, ihre eigene Stadt weiter zu zerstören. Der vorangehende Bericht erinnerte an den 60. Todestag von Jules Vernes und seinen Träumen vom Fliegen, doch der eigentliche Anlass war offenbar der erste Weltraumspaziergang des Kosmonauten Alexei Leonow. Straßenpassanten wurden von einem Wochenschau-Reporter nach ihrer Meinung zu diesem Erfolg gefragt – die erwartungsgemäß nur positiv und zustimmend ausfallen konnte. In der ostdeutschen Wochenschau stand die Raumfahrt-Technik der UdSSR im Vordergrund, dann jedoch meist im Vergleich zu den USA und deren Misserfolgen. Diesen Sujets folgte ein Bericht mit Aufbauerfolgen in der DDR oder ging ihnen voraus. Auf diese Weise wurde die angenommene Überlegenheit des Sozialismus demonstriert. Im Allgemeinen ist im AUGENZEUGEN zu beobachten, dass es um das Bewahren der bestehenden Errungenschaften geht, sowie den ökonomischen Plan zu verfolgen und die ‚Werktätigen‘ dabei zu unterstützen, wobei meist ein Vergleich zur Bundesrepublik gezogen wurde. Bis 1965 sollte die Bundesrepublik überholt werden: „Überholen ohne einzuholen” – eine Vision, die verkündet, aber nicht verwirklicht werden konnte.14
Raumfahrt war in den 1960er-Jahren in Berichten über Technik und Wissenschaft ein vorherrschendes Thema. Ab August 1965 enthielten einige ZEITLUPE-Ausgaben eine Rubrik „Die Welt von morgen”,15 in der diese und weitere Zukunftsthemen behandelt wurden: Raumfahrt-Technik (hier aus den USA), Bürotechnik, Nuklearforschung und Anwendung der Atomkraft für friedliche Zwecke, medizinische Forschung, Handelsformen (wie Cash & Carry), Verkehr und Automobiltechnologie, Architektur und Wohnen, Nahrungsmittel-Forschung sowie Visionen kultureller Entwicklungen in Mode, Tanz, Musik und Kunst. Die Wochenschau versucht durch die Beiträge der Reihe eine Zukunft zu beschreiben, die anderswo bereits zur Gegenwart oder Geschichte gehört. Sie greift damit einer künftigen Geschichtsschreibung vor und versucht durch das Material aus anderen Ländern eine Vision, wenn nicht sogar ein Vorbild zu kreieren. Denn Kritik ist dabei kaum zu vernehmen, sondern es wird eher das Staunen über Dinge und Vorgänge ausgelöst, die in dem damals gegenwärtigen Westdeutschland nur vage vorstellbar waren. Die Wochenschau lässt zukünftige Geschichte(n) entstehen.
Die Jahresrückblicke wurden in den westdeutschen Wochenschauen wie auch in DER AUGENZEUGE zumeist mit der üblichen Länge einer Ausgabe von etwa zehn Minuten im Kino-Vorprogramm eingesetzt. 16Durch den weltweiten Austausch von Filmmaterial trugen die Jahresrückblicke zur transnationalen Erinnerung bei. In der Wochenschau findet Erzählen durch Filmmontage, Überblendungen, O-Töne und musikalische Metaphern, Bilder von Stätten und Städten (u.a. in der Rolle als Erinnerungsorte)17 statt. Zahlreiche Hinweisreize bzw. „cues” (Erll 2011: 152) wurden eingebracht, die die Aufmerksamkeit lenkten und das Wiedererkennen anregten. Diese filmischen Elemente bestanden z.B. aus bestimmten Schlüsselbildern wie Schlagbäume (als Sinnbild für Trennung, Teilung und Grenze), bestimmten Melodien (als musikalische Metaphern) oder typischen Geräuschen. Nicht zuletzt musste der gesprochene Text so gestaltet sein, dass Andeutungen reichten, um komplexe Vorgänge des vergangenen Jahres verständlich darzustellen – auch, wenn ein Zuschauer gerade nicht die Wochenschau-Ausgabe gesehen hatte, aus der die Stücke für den Jahresrückblick entnommen worden waren.
Erstaunlich ist, dass die (ausnahmslos männlichen) Redakteure sowie die Cutter*innen für die Kompilation des Jahresrückblicks genau wussten, in welcher Ausgabe die einzelnen Stories und Bilder zu finden waren, um sie aus dem Archiv18 anzufordern. Die Cutterin Monika Götz (von 1954 bis 1966 bei der Deutsche Wochenschau GmbH in Hamburg tätig) berichtet, dass sie die notwendigen Negativfilme schnell identifizieren konnte, da sie das gesamte Jahr über beim Schnitt der Wochenschaufilme mitgewirkt hatte. Neben der Erstellung des Jahresüberblicks lief der normale Betrieb für die Produktion der aktuellen Ausgabe weiter. Die Redaktionskonferenz, auf der die Themen, die Inhalte und die Konzeption des Jahresrückblicks festgelegt wurden, hatte üblicherweise bis zum November stattgefunden. Der Zusammenschnitt war zum größten Teil bereits im November abgeschlossen, sodass die Vertonung und die Betextung zeitnah erfolgen konnten. Zum Schluss wurde der gesprochene Kommentar zugefügt. Monika Götz berichtet, dass ihr die Arbeit am Jahresrückblick Spaß gemacht habe, weil es „auch so vielseitig und interessant war – die ganzen Themen nochmal wieder [zu sehen]”. Diese Themen „griffen oft auch gut ineinander”, sodass fließende Übergänge möglich waren: „Man konnte gute Zusammenhänge und Übergänge finden”. Die Erstellung des Jahresrückblicks war Teamarbeit – mit redaktionellen Vorgaben, aber auch in kreativer Entfaltung der Cutter*innen. „Beim Jahresrückblick hatte man einen gewissen Freiraum”, sagt Monika Götz, „man konnte dann das machen, was Film ist – also Kunst in Anführungszeichen”.19
Die Gestaltung der Jahresrückblicke der NEUEN DEUTSCHEN WOCHENSCHAU variierte. Sie wurden z.B. als ironisch-kommentierter Überblick von bekannten Kabarettisten wie Werner Fink begleitet (NDW Nr. 48, Jahresrückblick 1950 und NDW Nr. 100, Jahresrückblick 1951) oder von Personen präsentiert, die sonst nicht vor die Kamera der Wochenschau traten, beispielsweise Kameraleute und Sprecher (wie in NDW Nr. 152, Jahresrückblick 1952). Der Rückblick konnte als ‚Weltreise‘ oder ‚Rundflug‘ konzipiert sein – mit Ausschnitten der ‚wichtigsten‘ internationalen Ereignisse, die von „Kollegen” der ausländischen Wochenschauen genannt worden waren (NDW Nr. 413, Jahresrückblick 1957). In den Jahresrückblicken der NDW kamen nicht nur Bilder aus den Ausgaben des abgelaufenen Jahres zum Einsatz, sondern nachweislich auch solche aus den vorangegangenen Jahren.20 Bilder von rauchenden Industrieschloten, Hochhäusern, Atombomben-Explosionen sind auf diese Weise zu Symbolbildern wirtschaftshistorischer und machtpolitischer Phänomene geworden. Die Jahresrückblicke der Wochenschauen sind somit als Palimpsest zu betrachten, denn durch die Mehrfachverwendung von Material und Aktualisierung des Vergangenen scheinen die ursprünglichen Bilder und der Zweck, zu dem sie entstanden sind, weiter durch. Sie werden mit dem Kommentar und weitere Einfügungen aus Musik, O-Ton und Geräusch überschrieben, sie erhalten ‚Fußnoten‘ und Diskussionswerte.
Der Jahresrückblick der ZEITLUPE Nr. 830 vom 21. Dezember 1965 beschäftigt ich jedoch nicht mit den vergangenen Ereignissen, sondern nimmt eine Zukunftsprognose für die kommenden 20 Jahre vor und versetzt das Publikum in das Jahr 1985. Die Wochenschau stellt unter anderem die Mondlandung im Jahr 1969 in Aussicht. Weitere Zukunftsszenarien beziehen sich u.a. auf Architektur, Verkehr, Bildung, Computertechnologie. Da es sich nicht um gespielte Szenen, sondern um Realaufnahmen handelt, die ganz offensichtlich aus ausländischen Wochenschauen stammen, hatten die gezeigten Entwicklungen in anderen Teilen der Erde bereits stattgefunden. Die Ausgabe wurde den Kinos in einer Pressemitteilung unter der Überschrift „Zukunftsvisionen – entworfen von Wissenschaftlern aus allen Teilen der Welt” und mit Stichworten angekündigt, die aus der Fülle der behandelten Themen solche herausstellten, die der Redaktion vermutlich am wichtigsten und interessantesten erschienen:
„… Spannungen zwischen arm und reich
… ¾ aller Krebsfälle sind heilbar
… Jacques Heim: ‚Der Busen wird sichtbar sein‘21
… mit dem Düsenrucksack pünktlich ins Büro
… Städte von morgen – Monumente ohne Ideen
… Mond-Flug-Preis pro Person: 50 Millionen $”22
Für die ZEITLUPE Nr. 830 wurde eine Art Drehbuch verfasst,23 das die Vorüberlegungen der Redaktion wiedergibt. Auf der linken Hälfte wird das Bild beschrieben: Motive, Einstellungsgrößen und Montage der Sequenzen, z.B. zu welchem Anteil einzelne Aufnahmen das Bild füllen sollen, wann Schrift über dem Bild erscheinen soll. Auf der rechten Seite stehen Vorschläge für einen Sprechertext. Unter jedem Textblock sind die Sekundenzahlen aufgeführt, die für das Sprechen benötigt würden. Der Text findet sich im späteren Wochenschaufilm teilweise gleichlautend wieder, die Szenen wurden jedoch etwas anders angeordnet. Das Drehbuch lässt eine gründliche Recherchearbeit und eine vermittelnde Umsetzung der Sachverhalte in Bilder und Text erkennen. Die Musik besteht im fertigen Wochenschaufilm aus unterschiedlichen musikalischen Stimmungen (seicht bis popartig) und einzelnen Soundeffekten.24 Abgesehen von zwei Original-Tönen aus den verwendeten Beiträgen sind Original-Geräusche dagegen nicht zu hören – dies wäre nur schwierig zu realisieren gewesen, denn Fremdfilmmaterial aus ausländischen Wochenschauen wurde stumm geliefert und die Geräusche eines Raketenstarts wären viel zu laut gewesen, um sie mit den damaligen Geräten aufzunehmen. Derartige Geräusche wurden bei der Wochenschau nachgeahmt.25
Für das Thema der ‚Bevölkerungs- und Einkommensentwicklung‘ in den verschiedenen Teilen der Welt hatte der Redakteur eine Bildkonstruktion entwickelt: „In das viergeteilte Bild springen nacheinander für das Land typische Szenen industrieller Produktion – z.B. Japaner am Mikroskop, eine landwirtschaftliche Maschine für Australien, hypermoderner Schaltraum für Amerika und Hüttenwerksszene für Europa”. Darunter befindet sich eine quadratische Zeichnung mit vier Feldern für die Länder (Abb. 1) [04:02.09]. Der Text im Drehbuch dazu lautet: „Aber eine Wohlfahrtswelt 1985 wird es […] nicht geben. Denn die hochentwickelten Industriestaaten Japan, Australien, Nordamerika und Europa müssten 40% ihres Einkommens für Entwicklungshilfe ausgeben, um den Hunger in der Welt zu bannen.”
Für das Thema ‚Bildung‘ wurden Aufnahmen einer amerikanischen Wochenschau genutzt (Abb. 2) [05:35.00]. Die Bildbeschreibung lautet: „Kinder verschiedener Rassen beim Spielen und Schulunterricht. Demonstrationen mit Lehrmaschinen, unterbrochen durch Großaufnahmen fragender Kindergesichter”. Der vorgeschlagene Text lautet: „Das Analphabetentum ist im Aussterben. 90% aller Kinder – so meinen die Optimisten – werden in 20 Jahren eine Schule besuchen können. In einem Irrgarten der Kenntnisse sollen Lehrmaschinen und programmierter Unterricht die Wahl erleichtern, was man wissen und lernen sollte. (20 Sek.)”. Schon damals wurde erkannt, dass auch Kinder mit Computern umgehen können müssen und es eine Flut von Informationen geben wird, die in Programmen strukturiert werden.
Für das Thema ‚Architektur‘ geht das Drehbuch auch auf die Musik ein: „Eine nach Musik geschnittene Montage aus stark kontrastierenden Bildern von ungewöhnlichen architektonischen Elementen”. Der Text entspricht der Ankündigung in der Pressemitteilung und wird im Film genauso gesprochen: „Stadtplanung von morgen gehört auch 1985 in den Bereich utopischer Zukunftsvisionen. Unsere Städte von morgen – so heißt es – sind Monumente ohne Ideen – funktionsfremd und ohne ästhetisches Gleichmaß – nicht mehr als Sammelbecken für ästhetische Experimente. (17 Sek.).” Im Film wird an dieser Stelle u.a. das Endo Pharmaceuticals Building26 gezeigt, das 1962-1964 gebaut wurde und noch heute als herausragendes Beispiel des Brutalismus gilt (Abb. 3) [08:26.17]. Hier wechselt die Musik zu popartigen Tönen mit vokalen Elementen, was die Modernität der Bilder unterstreicht.27 Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Filmberichte den Wandel eines bestimmten Bereiches durchaus kritisch spiegeln konnten: War man Ende der 1950er-Jahre noch von den Vorteilen von Häusern in Fertigbauweise überzeugt, regte sich in Westdeutschland bis Mitte der 1960er-Jahre Zweifel darüber, ob die kastenartig-abstrakte Nachkriegsarchitektur den Bedürfnissen der Menschen und deren ästhetischer Empfindung gerecht werden könne. Die Wochenschau forderte Alternativen und stellte visionär gesundes Leben in Räumen und Gebäuden vor, die Vorstellungen von Komfort und von Ruhe vor der Hektik des Alltags entgegenkamen.
Für das Ende der Ausgabe wurde im Drehbuch eine Nummer der Kabarett-Gruppe „Die Stachelschweine” von 60 Sekunden vorgeschlagen. Doch ist stattdessen eine Montage aus Bildern von WeltraumExpeditionen – aus Realaufnahmen (Astronaut im Orbit) und Trick bestehend – zu sehen. Im Trickfilm erkennt man deutlich CCCP auf dem Helm der Figur, die offenbar gerade auf dem Mond landet; der Ausschnitt stammt also aus einem sowjetischen Imagefilm über die Raumfahrtfortschritte der UdSSR (Abb. 4) [11:23.01]. Diese Bilder sind teilweise bereits in der Einleitung der Ausgabe enthalten, die ebenfalls aus einer Montage von überblendeten Aufnahmen besteht. Das Thema Raumfahrt bildet damit eine Klammer für diesen Jahresrückblick in Form einer Prognose.
Ob es möglich ist, auf dem Mond zu landen, beschäftigt die Wochenschauen allerdings bereits seit dem ‚Sputnik-Schock‘ 1957, die UFA-WOCHENSCHAU Nr. 65 vom 23. Oktober 1957 berichtet darüber ebenfalls unter Nutzung eines sowjetischen Trickfilms,28 der die Monderoberung mit Hilfe eines Roboters und Fernsehkameras zeigt. Der Sprecher schätzt die Informationen skeptisch ein: „Ein Propagandatrick oder ein zukunftsträchtiger Trickfilm? Wir wissen es noch nicht.”29
Die Rückblicke des DEFA-AUGENZEUGEN sind besonders durch den Ost-West-Vergleich bzw. durch den Vergleich von sozialistischem vs. kapitalistischem System geprägt. Bekannte Kabarettisten wie Werner Peters werden auch hier für den Rückblick auf die Aufbauarbeit in der DDR und das Negativbeispiel des Westens eingesetzt (in DER AUGENZEUGE Nr. 53/1954). Die Redaktion stellt sich selbstreferentiell bei der Zusammenstellung des Rückblicks dar: u.a. sind Stimmen zu hören, ein Redaktionstisch mit Papier, Aschenbecher und Kaffeetassen sowie Kameramänner bei der Ablieferung von Filmen werden gezeigt (in DER AUGENZEUGE Nr. 52/1955). Auch DER AUGENZEUGE versammelt Themen des vergangenen Jahres, um damit Zukunftsaussichten zu untermauern. Der Jahresrückblick 1957 in DER AUGENZEUGE Nr. A95 beschäftigt sich vordergründig mit dem sowjetischen Erfolg des Satelliten ‚Sputnik‘, technische Errungenschaften wie interkontinentale Raketen „in der Hand der stärksten Friedensmacht” und des daraus abgeleiteten Triumphs der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Das „Planetarische Zeitalter” sei 1957 eröffnet worden, so der Sprecher, dieses Jahr werde „in die Geschichte eingehen”. Auch hier ist neben der antreibenden Marschmusik mit Soundeffekten gearbeitet worden, um Geräusche zu ersetzen, die nicht aufgenommen oder wiedergegeben werden konnten, da es sich um fremdes Filmmaterial handelte.
Ein weiteres und ständiges Thema der ostdeutschen Wochenschau betrifft ‚Arbeit‘ – die 45-Stunden-Woche wurde in den Betrieben eingeführt und habe man gleichzeitig die Pläne erfüllt: Kohleförderung, Schiffbau und Inlandsflugverkehr sowie Landwirtschaft. Durch die Mechanisierung sei „vorbereitet” worden, „was morgen selbstverständlich sein wird” – dabei kommen automatisierte Melkstände ins Bild. Als ein „Meilenstein auf dem Weg zum Sozialismus” wird der Aufbau eines Atomreaktors bei Dresden zur „friedlichen Nutzung der Atomenergie” bezeichnet. Beim Thema Bauen von Kulturstätten und Lichtspielhäusern wechselt die Musikunterlegung zu flotten jazzigen Tönen. Wie schon 1955 bezieht sich die Wochenschau auf sich selbst und präsentiert sich als ‚der Zeit vorauseilend‘. Im Fast motion-Modus wird die Belegschaft bei der Arbeit gezeigt. DER AUGENZEUGE gibt ironisch vor, sein „Blickfeld” erweitern zu wollen, und zwar mit Katastrophen aus der westlichen Welt – dieser Teil beginnt mit missglückten Raketenversuchen der USA und Kritik am ‚Wirtschaftswunder‘ in der Bundesrepublik, das mit Schlagzeilen über steigende Preise ad absurdum geführt wird. Rüstung und Alt-Nationalsozialisten in Adenauers Kabinett sind weitere Aspekte, die in der ostdeutschen Wochenschau stets mit dem anderen Teil Deutschlands argumentativ verbunden werden. Nach den Bildern von verunglückten amerikanischen Flugzeugen folgt mit der bekannten Melodie des Säbeltanz von Aram Chatschaturjan begleitet das „schnellste und sicherste Passagierflugzeug der Welt”. Die Musik und das Bild der Tragfläche, auf der CCCP zu erkennen ist, erklärt dem Zuschauer, welchem Land das Lob dafür zukommt. Zum Schluss werden die Kameramänner des AUGENZEUGEN bei der Arbeit gezeigt – auch in Westdeutschland beim Filmen von ‚Werktätigen‘, die dort um „ihre Rechte” kämpften, wie der Kommentar sagt. Der Jahresrückblick des AUGENZEUGEN strengt somit den Vergleich von Ost und West an, wie dies auch allgemein im Laufe der Berichterstattung der ostdeutschen Wochenschau zu beobachten ist.
Während DER AUGENZEUGE die Ereignisse in der Bundesrepublik durch die Perspektive der DDR kommentierte, findet man in der westdeutschen NDW Nr. 570 vom 19. Dezember 1960 Prognosen in Form von Karikaturen von A. Paul Weber, die u.a. vor apokalyptischen Zuständen durch den Kampf von Ost und West warnen. In den Themenblöcken des Jahresrückblicks geht es jedoch auch um eine Reflexion u.a. des Konsums. Die Filmaufnahmen von den Ereignissen des vergangenen Jahres wurden in den Zeichnungen ‚registrierend‘, wie der Kommentar sagt, umgesetzt – daher wechseln sich Karikaturen und reale Wochenschau-Bilder ab. Der erste Zusammenschnitt zeigt Maschinen und Neubauten. Der Kommentar berichtet, wie zugleich über die „Automation” gejubelt und gestöhnt werde, doch das „Maß des Menschen” sei stets zu beachten und die „Dinge”, trotz der Freude über den erreichten Lebensstandards, daran anzupassen. Auf diese Weise werden Grundsätze erklärt und mit einem O-Ton Ludwig Erhards untermauert,30 der mit Symbolen des Wohlstands (z.B. Auto, Camping, Schmuck) kompiliert ist. Misswahlen und Misterwahlen werden ironisch durch die Karikatur und den Sprechertext betrachtet und mit Jazzmusik unterlegt.
Der größte Themenblock „Zwischen Ost und West” zeigt Paraden in der UdSSR und China und damit die Bedrohung, die die Weber-Karikatur „Schaukelspiel der militärischen Kräfte” (Abb. 5) aufgreift. Der Kommentar kritisiert, dass im Osten von Frieden gesprochen, aber gleichzeitig gerüstet werde und als „Drohung von morgen” stehe dahinter „die ständig wachsende Armee Rotchinas”. Doch die Wochenschau zeigt als Antwort auf die russischen Interkontinental-Raketen die Atom-U-Boote der USA mit den Polaris Unterwasserraketen. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer spricht sich im O-Ton für Abrüstung aus.31 Atomtests mit den typischen Bildern des Atompilzes belegen Frankreichs Beteiligung an der Entwicklung. Im Folgenden wird das Gegeneinander von Ost und West, das auch in und durch Berlin ausgetragen wird, ausführlich dargestellt, um dann auf Amerika und Kennedys Wahlsieg zu kommen: Die deutsche Frage sei für ihn genauso verpflichtend wie für den Vorgänger, sagt der Sprecher. Die Wochenschau prognostiziert somit die fortgesetzte Unterstützung der USA, die auch Adenauer in einer Ansprache angemahnt hatte.32 Vor dem Sportteil und Bildern von den Olympischen Spielen fasst die Wochenschau die verschiedenen Spaltungen in der Welt zusammen: Ost und West, Chruschtschow und Vereinte Nationen, ehemalige Kolonialstaaten mit Bürgerkriegen. Den Schluss bildet die Karikatur: „Die Zukunft liegt in den Karten” (Abb. 6), womit Weber seine Zeichnungen einpackt. Der Kommentar jedoch resümiert, dass die Zukunft weder in den Karten noch in den Sternen zu suchen sei, sondern „bei uns” liege, „wie wir sind, so wird die Welt sein”.
Aus DDR-Perspektive beschäftigt sich DER AUGENZEUGE Nr. 52 im Jahresrückblick von 1961 nach einem unterhaltsamen Zusammenschnitt von kuriosen Bildern von Erfindungen und kuriosen sportlichen Betätigungen ebenfalls mit der Raumfahrt. Im kulturellen Bereich treffen sich Absurditäten aus der Bundesrepublik mit Bemerkungen über Adenauers Politik und seiner Reise in die USA, was mit langweilig klingender Posaune unterlegt ist. Adenauer wird als „Diktator” bezeichnet, der den AutoKonzern Borgward verloren habe.33 Eine Kritik an vermeintlichen Kolonialstaaten in aller Welt schließt sich an. DER AUGENZEUGE zieht mit dumpfer Musik unterlegt ein Szenario der atomaren Aufrüstung auf. Das nächste Thema ist der Bau der Berliner Mauer, der als notwendige Konsequenz aus der Aufrüstung und daraus resultierenden Angriffsplänen des Westens dargestellt wird: „Ein Tag im August gebot dem Ganzen Halt. Arbeiter handelten im Auftrage von Arbeitern”, sagt der Kommentar. Mit Modellen und Bildern von Rohbauten (Abb. 7) wird der „Neuaufbau des Berliner Stadtzentrums” angekündigt. Auch in 1961 wird der Weltraumerfolg der UdSSR gefeiert, „zwei Kommunisten haben der Welt den Weg zu den Sternen gebahnt”, und dies als politische Überlegenheit dargestellt: „Das Zeitalter des Kommunismus hat begonnen“. Es folgen Bilder von Massenaufmärschen als der Kommentar den „Siegesplan des deutschen Volkes” anspricht – ohne dabei zwischen West und Ost zu differenzieren. Zum Abschluss sind Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy beim Gipfeltreffen am 3. und 4. Juni 1961 in Wien zu sehen (sie unterhalten sich mit den First Ladies in Großaufnahme) – was der Kommentar mit dem Wunsch für ein gutes Jahr verbindet. Das freundliche Miteinander der Staatschefs gibt im Jahresrückblick Hoffnung auf dauerhaften Frieden.
Die Analysen verdeutlichen nochmals, inwiefern der Wochenschaufilm auch als Palimpsest gelesen werden kann. Hierdurch entsteht ein vielschichtiger Zugang: Zunächst auf der historischen Ebene der Gesellschaftsgeschichte, darüber gelagert befindet sich die Perspektive der aktuellen Information aus der Situation der ersten Aufnahme und wiederum darüber angeordnet ist die Zusammenstellung durch Schnitt und Montage in der Wiederverwendung. Trotz der vielfältigen Darstellung von Zukunft und Moderne scheinen die Zuschauer in den 1960er-Jahren eine Rückbesinnung auf Traditionen der ‚guten alten Zeit‘ nicht abgeneigt gewesen zu sein, denn auch Stories mit nostalgischen Themen in Abgrenzung zum modernen Leben sind zu sehen, so z.B. in NDW Nr. 669 vom 23. November 1962 mit einem Bericht über einen 80-jährigen Hilfspostboten, der im Watt wie eh und je seinen Dienst tut. Das Publikum wird nicht nur eingeladen, den Postboten auf seinem Weg zu begleiten, sondern auch seine Fundstücke aus früheren Zeiten zu betrachten, die er aus dem Watt im Laufe der Jahre geborgen hat und nun in seiner Wohnstube aufbewahrt. Auch durch den Berichtsgegenstand entsteht so eine Zeitreise.
Ebenso wie heute in Fernsehen, Radio und Presse – erstellten die unterschiedlichen WochenschauProduktionsgesellschaften einen Rückblick auf besondere Ereignisse des vergangenen Jahres. Darunter sind Ereignisse, die wir heute als ‚historisch‘ kennen – aber mindestens ebenso viele, die z.B. nicht in History-Formaten des Fernsehens beständig wiederholt werden. Es sind Themen, die zuerst aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen, dann aus der Erinnerung der nachfolgenden Generationen entschwunden sind. Die Wochenschau trägt als audiovisuelles Archiv zum Gedächtnisspeicher bei. Sie ist somit nicht nur ein Teil der Filmgeschichtsschreibung, sondern erzählt und gestaltet erinnerbare Gesellschaftsgesichte. Bei der Deutung der Wochenschauen sind gerade deshalb die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexte zu beachten. Ständig wird auf unterschiedliche Weise und für die Zuschauer fast unmerklich zurückgeblickt und auf vergangene Zeiten rekurriert, um diese mit den Verhältnissen der Gegenwart abzugleichen. Gleichzeitig gelingen der Wochenschau auch Visionen, die entweder gespielte Szenen enthalten, aus Trickfilm bestehen oder auf Material zurückgreifen, das zeigt, was anderswo in der Welt bereits umgesetzt wird oder in Planung ist.
Die Themen der umfangreichen Rückblicke und kurzen Flashbacks spiegeln Normen und Werte der Gesellschaft in West- und Ostdeutschland wider – zeigen aber auch, welche Denk- und Verhaltensweisen idealerweise gewünscht waren. Als Massenmedium garantierte die Wochenschau eine weite und weltweite Verbreitung und konnte damit zu einer Verbundenheit mit den Inhalten und dem vermittelten Image (des eigenen Landes) führen. Dabei zielte sie besonders darauf, die Menschen zu beeindrucken: Das Publikum sollte interessiert und berührt werden – dies gelang durch die Montage von Raum und Zeit, durch die Verwendung von Zwischenschnitten, etwa um Bilder zu kommentieren und mit Bedeutung aufzuladen. Dies gelang weiterhin durch den Einsatz von Musik, Geräusch und Kommentartext in unterschiedlicher Tonalität. Die ausgewählte Musik verlieh den Bildern einen nostalgischen oder modernen Anschein und Sprecher der Wochenschauen definierten Entwicklungen und Ereignisse oder Momente als „historisch” bzw. nutzten Phrasen, wie „im Zeitalter der/des/von” (z.B. NDW Nr. 303 vom 18.11.1955)34, was zur Einordnung der gezeigten Ereignisse beitrug. Die Wochenschau kann als eine Art filmische ‚Zeitmaschine‘ aufgefasst werden kann, die nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der Vergangenheit berichtete und zukünftige Entwicklungen in Wirtschaft, Technik und Menschheit aufzeigte. Sie ist auf diese Weise eine historische Quelle und Teil der audiovisuellen Erinnerungskultur. Die Komplexität von Problemen kann die Wochenschau nur anreißen und versuchen, Denkanstöße zu bieten – die Facetten der Geschichte ergeben sich letztendlich aus den einzelnen, miteinander vernetzten audiovisuellen Erzählungen. Erstaunlich und erschreckend zutreffend aber sind die Voraussagen aus dem angeführten Jahresrückblick von 1965: Weit über das darin imaginierte Jahr 1985 hinaus gibt es noch immer Armut in Entwicklungsländern und Überbevölkerung, die Lücke zwischen Arm und Reich ist stärker gewachsen. Und immer noch lautet die Devise: ‚Menschlich bleiben‘, wie der Kommentar aus ZEITLUPE Nr. 830 am Ende sagt.
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